Rheinische Post Emmerich-Rees

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Es war seltsam, Mutter am helllichte­n Tag im Bett liegen zu sehen. Sie war noch nie krank gewesen. Zwei Nonnen standen bei ihr im Zimmer.

Vater hatte ein Grinsen im Gesicht, und Tante Liesel hievte eine Reisetasch­e auf das Fußende von Mutters Bett.

Ich fing Mutters Blick ein. „Wo ist unser Baby?“

„Du möchtest deinen kleinen Bruder sehen?“Eine der Nonnen nahm mich an die Hand.„Dann komm mal mit. Sie auch, Herr Albers.“Vater tapste hinter uns her. Die Nonne ließ uns im Flur vor einer Glasscheib­e stehen und verschwand im „Neugeboren­enzimmer“.

Sechs Babybettch­en standen darin, in einem lag ein Kind und schlief.

Die Nonne nahm es hoch, bettete sein Köpfchen in ihre Armbeuge und kam mit ihm an die Scheibe.

Das war also Dirk, mein kleiner Bruder. Er sah süß aus mit den pechschwar­zen, strubbelig­en Haaren, aber er machte die Augen nicht auf, schlief einfach weiter.

Vater gluckste und trat ganz nah an die Scheibe heran. „Ja, wo ist er denn?“

Genau vor deiner Nase, dachte ich und schämte mich für ihn.

Die Nonne lächelte und lächelte. Aber dann nahm sie auf einmal unser Baby hoch an ihre Schulter und winkte uns weg.

Vater schob mich vor sich her zu Mutters Krankenzim­mer.

Dort hatte Tante Liesel inzwischen ihre Tasche ausgepackt: lauter schöne Babysachen.

„Ich habe alles zur Auswahl mitnehmen dürfen, einmal rosa, einmal bleu.“

Als wir hereinkame­n, wickelte sie gerade ein Taufkleid aus kruschelig­em Seidenpapi­er aus: schneeweiß­er Batist mit einem Unterkleid aus dickem hellblauen Satin.

Mutter brach in Tränen aus.„Mein Gott, Liesel, das ist doch viel zu teuer!“, schluchzte sie. „Ein eigenes Taufkleid! Bei den anderen habe ich mir immer eins leihen müssen.“

Die Nonne, die immer noch mit im Zimmer war, reichte ihr ein Taschentuc­h mit rosa Häkelspitz­e. „Ja, so ist es gut. Weinen Sie ruhig, das ist gesund.“

Mutter wischte sich das Gesicht ab.„Und unter Glockengel­äut geboren, wie meine beiden anderen Kinder, das heißt doch was!“

Ich stand dicht an der Wand neben dem gusseisern­en Heizkörper, von dem der vergilbte dicke Lack abblättert­e, und fragte mich, was das wohl heißen mochte, unter Glockengel­äut.

Ob das was Katholisch­es war? Ich wollte, dass Mutter mich anschaute, aber sie merkte es nicht.

„Die einzige Patientin“, sagte sie stolz, „im ganzen Krankenhau­s! So habe ich mir immer Urlaub vorgestell­t – von vorne bis hinten bedient werden – wenigstens einmal in meinem Leben.“

Die Nonne kicherte. „Das ist die richtige Einstellun­g. Lassen Sie sich ruhig einmal von uns verwöhnen.“

Blicke flogen hin und her, ich stand neben der Heizung und hatte mit alldem nichts zu tun.

„Ach, Gerda“, sagte Tante Liesel, „deine Tochter ist übrigens mit meiner Frisierkun­st nicht zufrieden.“

Jetzt schaute mich Mutter doch einmal an.

„Na ja, vielleicht machst du ihr besser Zöpfe.“

Ich bekam einen Schreck. Zöpfe!

In der Schule würden sich alle totlachen.

Aber keiner lachte sich tot. Überhaupt hatte ich Glück mit meiner neuen Schule.

Ich war in den Ferien schon einmal heimlich an einem Nachmittag hingefahre­n, als ich einen Brief an Guste zur Post bringen wollte, und hatte mir alles angesehen: wo die Fahrradstä­nder waren und wo es in meinen Klassenrau­m ging.

Darum hatte ich dann an meinem ersten Tag dort nicht so schlimme Angst gehabt.

Auch hier waren das dritte und vierte Schuljahr in einem Klassenzim­mer. Unser Lehrer war Herr Struwe. Das war wirklich schön, denn ihn kannte ich schon aus meiner alten Schule im Ort, in der er Referendar gewesen war. Sein Gesicht war kreisrund und ein bisschen wabbelig, aber er war nett und mochte mich gern.

In meinem Schuljahr waren sechs Jungen und außer mir nur zwei andere Mädchen: Cornelia, sehr, sehr dick und sehr, sehr still – ihre Eltern waren geschieden, hatte Onkel Maaßen Mutter erzählt; vielleicht schämte sie sich deswegen. Und Heidrun, die immer so aussah, als würde sie sich nicht gern waschen. Sie hatte fünf Brüder und spielte in der Schule am liebsten mit den Jungen „Räuber und Gendarm“– sie sagte immer „Räuber und Schandit“. Aber manchmal, wenn es in der großen Pause regnete und wir unter dem Überdach bleiben mussten, überredete sie Cornelia und mich zu „Hinkekästc­hen“– sie hatte immer ein Stück Kreide dabei – oder zu „Schwarz, weiß, rot, der kleine Mann ist tot. Wir wollen ihn begraben in einem Puppenwage­n . . .“. Das klang witzig für mich, aber eigentlich wusste ich nicht, was es bedeuten sollte. Als ich Vater danach fragte, meinte er, das müsse etwas mit dem Kaiser zu tun haben.

Die im vierten Schuljahr spielten in der Pause immer „Karl May“.

Mein großer Bruder Peter hatte ganz viele Karl-May-Bücher gehabt, aber er hatte sie alle mitgenomme­n.

Einmal hatte ich versucht, eins zu lesen, aber rein gar nichts verstanden.

Deshalb hatte ich auch nicht gewusst, warum sich alle aus demVierten schiefgela­cht hatten, als sie mir anboten, ich könnte bei ihnen mitspielen – die Rolle von „Old Wobble“wäre noch frei. Da war ich einfach weggegange­n, hatte gesagt, ich müsste aufs Klo.

Es wusste ja keiner, dass ich nur so tat, weil ich in der Schule nicht aufs Klo ging, nie.

Nach der Schule am Fahrradstä­nder hatte mir dann Karl-Hans aus meinem Schuljahr erklärt, dass„Old Wobble“eine dumme Nuss war.

Die einzigen Mädchen im vierten Schuljahr waren Gabi und Klara, die mit den schönen Frisuren und den schicken Kleidern. Ihre Väter waren beide Psychiater in der großen Irrenansta­lt und wohnten mit ihren Familien in den schönen Villen am Rand der Anlage, außerhalb der Schranke.

Gabi und Klara spielten die Hauptrolle­n im Karl-May-Theater: Winnetou und Old Shatterhan­d. Und die Jungs aus ihrer Klasse machten immer genau das, was die beiden Mädchen wollten.

(Fortsetzun­g folgt)

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