Rheinische Post Emmerich-Rees

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Herr Struwe war zwar nett, aber nicht besonders klug. Als er mich der Klasse vorstellte, hatte er gesagt: „Das ist Annemarie. Ich kenne sie schon aus meiner alten Schule, dort war sie immer die Klassenbes­te. Von ihr könnt ihr euch alle eine Scheibe abschneide­n.“

Da wollte ich einfach nur weg. Gabi und Klara hatten sich gegenseiti­g angestupst und mich spöttisch beäugt.

Aber nach ein paar Tagen waren sie dann doch richtig nett zu mir gewesen.

In diese Schule ging ich gern. Und seit Guste mir den Bleistift geschickt hatte, auf dem das ganze große Einmaleins aufgedruck­t war, hatte ich auch keine Angst mehr vor der Rechenstun­de. te für den Naturkunde­unterricht Pflanzen sammeln und danach noch einen Aufsatz schreiben.

Ich konnte Tante Liesel ansehen, dass sie mir kein Wort glaubte, aber Vater, der gerade zum Dienst wollte, sagte: „Die Stachelbee­ren pflücke ich morgen früh.“

Dann endlich kam Mutter mit unserem Baby nach Hause – in einem Taxi, das Tante Liesel bestellt hatte und auch bezahlte.

Der Taxifahrer ging mit dem Gepäck direkt zur Vordertür – er kam wohl nicht vom Land und wusste es nicht besser –, und Mutter folgte ihm einfach mit dem schlafende­n Dirk auf dem Arm.

Vater hatte Spätschich­t, er würde erst gegen elf Uhr abends wieder da sein.

Mutter hatte in Trudi Pfaffs Schlafzimm­er, in dem momentan Tante Liesel schlief, ein Babybettch­en und eine Wickelkomm­ode aufstellen dürfen.

Dorthin brachte sie Dirk, legte ihn hin und deckte ihn nur mit einer kleinen Baumwollde­cke zu, die mit Entchen bedruckt war.

Es war zwar schon Anfang September, aber immer noch sehr warm.

Dirk schlief einfach weiter. Wahrschein­lich schliefen Babys einfach viel.

Tante Liesel nahm Mutter in den Arm, und sie schauten beide auf das Kind.

Ich wollte mich bemerkbar machen, aber mir fiel nichts ein, also blieb ich einfach in der Tür stehen.

„Gibst du ihm die Brust?“, fragte Tante Liesel, aber Mutter schüttelte leise den Kopf. „Ich habe diesmal nicht genug Milch. Davon alleine gedeiht er nicht. Die Nonnen sagen, ich soll ihm besser nur die Flasche geben.“

Sie strich sich über den Busen und knöpfte ihre Bluse ein Stück auf. Es roch süß und satt.

„Jetzt muss ich mir alles mit elastische­n Binden hochschnür­en und so kleine Pillen schlucken, damit die Milch weggeht.“

„Na, komm und pack erst mal aus.“Tante Liesel drückte Mutters Arm. „Haben sie dir Schmelzflo­cken mitgegeben?“

„Nein, Milana, das ist besser.“Sie wurde auf einmal ganz unruhig. „Ich muss schnell die Fläschchen und Nuckel auskochen, er wird bald wieder Hunger haben.“

Ich presste mich an den Türrahmen, aber auf einmal sah Mutter mich, ging in die Hocke und nahm mich in die Arme. „Ach Kind, wenn ich dich nicht hätte . . .“

Ich durfte dabei sein, als Mutter Dirk wickelte und ihm die Pulla gab, dann schickte Tante Liesel mich ins Bett. „Schule!“

Aber Mutter betete noch mit mir, deckte mich zu und ließ die Türen zur Küche und zum Wohnzimmer offen.

Und so konnte ich gemütlich da liegen und hören, was sie miteinande­r sprachen.

„Ich wünschte, Maja könnte jetzt bei uns sein!“Mutter versuchte hörbar, die Tränen zurückzuha­lten.

Es hatte noch eine Schwester gegeben, Maja, im Krieg gestorben.

Auch sie war eine wichtige Frau beim Arbeitsdie­nst gewesen, irgendwo an der polnischen Grenze.

Eines Tages war sie schwerkran­k geworden, eine Mittelohre­ntzündung, und hatte dringend Penicillin gebraucht, aber das hatte es nirgends gegeben, das war nur für Offiziere gewesen.

Man hatte dann einen Boten zu ihremVater, meinem Opa, nach Polen geschickt. Und der hatte es tatsächlic­h geschafft, über geheime Verbindung­en Penicillin aufzutreib­en.

„Sie war immer seine Lieblingst­ochter“, sagte Tante Liesel jetzt, und Mutter lachte zustimmend.

„Sie war ja auch wunderbar. Die ließ sich den Käs’ nicht nehmen und war trotzdem ein lieber Mensch.“

Aber als Opa dann endlich mit dem Medikament an Majas Fieberbett gestanden hatte, war es zu spät gewesen, der Eiter war schon ins Gehirn gedrungen, und sie hatte ihren Vater nicht einmal mehr erkannt.

Diese traurige Geschichte kannte ich schon, aber jetzt redeten die beiden über etwas, von dem ich noch nichts gehört hatte.

„Weißt du noch – die Kapitulati­on?“, fragte Mutter. „Wieso warst du damals eigentlich zu Hause?“

„Na, die hatten im Osten doch alles aufgelöst. Ich musste doch irgendwohi­n. Gott sei Dank hattest wenigstens du die Stellung gehalten.“Sie raschelte mit irgendwas. „Weißt du noch, wir saßen beide draußen – du hattest Peter auf dem Schoß. Es war so heiß wie im Hochsommer.“

„Ja, wir hatten unsere Strümpfe runtergero­llt und kurze Ärmel an – und das Anfang Mai!“

„Und dann sehen wir unsere Soldaten mit den weißen Fahnen den Berg runterkomm­en. Es war so furchtbar!“

„Und wir wussten gar nichts. Wir wussten nicht mal, wer noch lebte.“

„Mutter und Vater in Polen – bestimmt tot.“

(Fortsetzun­g folgt)

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