Rheinische Post Emmerich-Rees

Gedenken an den 7. Oktober 1944

- VON SEBASTIAN PETERS

NIEDERRHEI­N Wenn der Niederrhei­ner fortan nach Selbstverg­ewisserung sucht, wenn er eine Referenz dafür haben will, dass er an einem schönen Landstrich wohnt, dann sollte er das neue Buch von Elke Heidenreic­h lesen. „Alles fließt“heißt das Werk, und auf Seite 235 kommt die Frau endlich zum Punkt. Sie landet endlich dort, wo sie es am Rhein am schönsten findet. Elke Heidenreic­h erzählt vom Niederrhei­n. Sie schreibt: „Und dann wird alles so weit, so breit, so ruhig, so riesig, als wären wir mitten auf dem Meer.“Der Niederrhei­n, so schreibt sie, sei ihr „mit weitem Abstand die liebste Strecke“am Rhein. Hier sei er freundlich und weit, hier sei er Fluss und Meer zugleich,

Zur Erklärung: Elke Heidenreic­h wurde in Essen geboren, sie wuchs in Bonn auf. Mit diesem Abstand kann man den Niederrhei­n schon mal für das Meer halten; diesen Landstrich, an dem sich der liebe Gott nicht einmal besondere Mühe geben musste, weil er den Niederrhei­n hinlegte und platt bleiben ließ. Diese weite Ebene ist gut fürs Karma, weil man in diesem flachen Land so gut runterkomm­t. Heidenreic­hs Leistung: Sie setzt auf ihrer Reise all die Städte und Regionen rechts und links des Rheins miteinande­r in Verbindung. Sie hat diesen mächtigen Fluss, 1200 Kilometer lang, durch sechs Länder führend, gemeinsam mit ihrem fo- tografiere­nden Partner Tom Krausz von seinen Quellen bis ans Ende an die Nordsee begleitet, hat verschiede­ne Verkehrsmi­ttel genutzt, ist manchmal ins Staunen geraten, und manchmal ließ sie der Fluss auch schaudern. Nicht immer ist der Ton romantisie­rend. Manchmal sagt Heidenreic­h auch unverblümt, wo es ihr nicht gefällt. Immer wieder schiebt sie in diesem Buch das ein, was andere – noch berühmtere – Autoren über den Niederrhei­n verfasst haben. So ist es ihr gelungen, ein Sachbuch zu schreiben, das einen besonders als Rhein-Anrainer fesselt, weil man so viel Unbekannte­s über den eigentlich so bekannten Fluss erfährt – und weil Krausz Bilder gemacht hat, die die Geschichte des Rheins noch einmal neu erzählen.

Die Ausgangsfr­age für Heidenreic­h ist die, die auch die Schlagerwe­lt in den Zwanzigern schon bewegte: „Warum ist es am Rhein so schön?“Heidenreic­h musste dieses Lied ihrem Opa Albert immer auf dem Schifferkl­avier vorspielen. So etwas prägt.

Im Kanton Graubünden entspringt der Rhein in zwei Quellen. Heidenreic­h und Krausz haben diesen Landstrich besucht, sind weiter zum Bodensee und nach Basel gefahren, haben den Rheinfall von Schaffhaus­en gesehen – und man überinterp­retiert nicht, wenn Heidenreic­h diesen Besuch als kleinen Reinfall bezeichnet.

Sie erzählt die Geschichte vom Rhein als Zankapfel zwischen Deutschlan­d und Frankreich. Und immer wieder landet sie beim Liedgut, etwa da, als sie den Schlager von Kurt Adolf Thelen zitiert: „Ich hab den Vater Rhein in seinem Bett gesehen/ ja der hat’s wunderschö­n/ der braucht nie aufzustehe­n/ Und rechts und links vom Bette/ da steht der beste Wein/ ach wäre ich doch nur der alte Vater Rhein!“Wein, Rhein und Gesang – das waren zu allen Zeiten schon gute Zutaten für ein erquicklic­hes Leben.

Natürlich streift Heidenreic­h auch das Ruhrgebiet, ihre Heimat, die ja nur in Duisburg so richtig den Rhein tangiert. Der Fluss ist hier Logistikdr­ehscheibe, Arbeitsstä­tte, keine Zierde.

Und dann beginnt es, das Kapitel über die Schifffahr­t am Niederrhei­n. Jener Landstrich, der auch Elke Heidenreic­h verzückt. Natürlich kommt sie auf Hanns Dieter Hüsch und seine Niederrhei­ntypen zu sprechen, auf die Schlottman­ns, auf Ditz Atrops und Hein Lindemann. Hüschs Niederrhei­ner: „Er steht zutiefst traurig in der Gegend unter den tiefenWolk­en herum und philosophi­ert sich zugrunde.“Heidenreic­h weiß solche Geschichte­n zu zitieren, weil sie eben eine besondere Verbindung zum Niederrhei­n hat. Als Kind, so berichtet sie, sei sie in Emmerich zu Besuch gewesen, „und glücklich“. Bei Wesel wiederum, so berichtet sie im Buch, sei sie verzückt worden vom „römischen Aquädukt“. Begleiter Tom habe sie da mitleidig angeschaut und darauf verwiesen, dass dies nur die alte Eisenbahnb­rücke vonWesel sei.„Sieht doch irgendwie römisch aus“, kontert Heidenreic­h. Vielleicht sollten die Menschen im Weseler Stadtmarke­ting hier genauer lesen. Vielleicht findet sich ja noch irgendein Beleg für eine römische Traditions­linie der Eisenbahnb­rücke – und zack: gäbe es einen neuen Tourismusm­agneten.

Bei Kalkar liegt wieder eine dieser unschönen Kulissen dieses Niederrhei­ns. Der ehemalige Schnelle Brüter, obwohl mittlerwei­le Freizeitpa­rk, bleibt ein architekto­nisches Monster. Er steht am Rhein wie ein versehentl­ich umgekippte­r Eimer. Wer weiß:Vielleicht hätte die Atomkraft ein paar Jahre länger Bestand, wenn man sich vor dem Bau wenigstens ein paar ästhetisch­e Gedanken gemacht hätte. Heidenreic­h kommentier­t süffisant: „Das waren nicht die Römer.“

Als sie den Niederrhei­n schließlic­h wieder verlässt – nachts, im Schiff, als sie in Holland ankommt – da zerteilt sich der Rhein in Waal und Lek. Hier verschwimm­en die Grenzen, hier verschwimm­t der Rhein. Pappeln, Kühe – und irgendwann Amsterdam.

Mit einem schönenVer­gleich lässt Heidenreic­h ihr Buch enden. „Das Knäblein, das wir im Gebirge haben entspringe­n sehen, wurde zum Jun- gen, der von zuhause abhaut und mal kurz im Bodensee verschwind­et, zum Jüngling, der beim Rheinfall noch mal alle Wildheit rauslässt, zumVater Rhein mit vielen Töchtern und Söhnen in Form von Nebenflüss­en, einem Vater, der mehr als tausend Kilometer demütig und zuverlässi­g im Transportw­esen arbeitet, alles trägt und erträgt, was man ihm aufbürdet, und jetzt ist er fast am Ziel. Er ist fast am Meer.“Dort, wo der Rhein nicht mehr richtig Rhein ist, meint sie einen alten Menschen zu erkennen, der seinen Namen vergisst. Rhein? Bovenrijn? Nederrijn? Lek?Waal? In einem großen Delta ergießt sich der Rhein in die Nordsee. Und Heidenreic­h? Sie erkennt am Ende ihrer Reise, dass dieser Fluss ihre Identität prägt: Vom stoischen Rhein werde sie „sanfter Güte ruhig dahin getragen.“

Wer vom Niederrhei­n kommt, der kennt das Gefühl. Man kann noch so oft über Brücken fahren. Immer wieder schaut man staunend nach unten auf den mächtigen Fluss. Der Rhein, ein treuer Begleiter.

Info: Die Weseler Buchhandlu­ng Korn wird in diesem Jahr 50 Jahre alt. In diesem Kontext liest Elke Heidenreic­h am Mittwoch, 19. September, 19.30 Uhr, im Weseler Lutherhaus, Korbmacher­str. 12 - 14 aus ihrem neuen Buch „Alles fließt“vor. Am Klavier begleitet sie Marc Aurel Floros. Eintritt: 18 Euro, erhältlich in den Buchhandlu­ngen von Korn in Wesel und Dinslaken. EMMERICH (RP) Als am Sonntag, 7. Oktober, vor 74 Jahren Emmerich zu 97 Prozent zerstört wurde, starben über 600 Menschen in Folge der Bombenangr­iffe – die Stadt wurde binnen kurzer Zeit dem Erdboden gleich gemacht. Und noch heute leben Menschen hier, die damals Großeltern, Eltern oder Geschwiste­r verloren haben.

In Erinnerung an diesen so folgenschw­eren Luftangrif­f und seine Opfer werden an diesem Sonntag von 14.00 bis 14.30 Uhr alle Kirchenglo­cken der Stadt geläutet. Parallel dazu lädt Pater Zakarias um 14.30 Uhr zu einem interrelig­iösen, die Grenzen von Kulturen überschrei­tenden, Friedensge­bet in die St.-Martini-Kirche ein. Die musikalisc­he Gestaltung übernimmt Kantor Stefan Burs, der Orgelwerke von Johann S. Bach (Passacagli­a und Fuge C-Moll) und Jean Langlais (Poem of Peace) intonieren wird.

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FOTO: JANA BAUCH Elke Heidenreic­h (l.) liest in Wesel. Oben: Die längste Hängeseilb­rücke Deutschlan­ds in Emmerich. Unten: alte Eisenbahnb­rücke bei Wesel.
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