Rheinische Post Emmerich-Rees

Labour wittert Morgenluft

ANALYSE In Großbritan­nien könnte es Neuwahlen geben, wenn die Brexit-Pläne im Parlament scheitern. Die Arbeiterpa­rtei bereitet sich bei einem Parteitag am Wochenende schon auf einen Machtwechs­el vor.

- VON JOCHEN WITTMANN

Für einen Politiker, der seine Mission einmal als „den Kapitalism­us zu stürzen“beschriebe­n hat, pflegt John McDonnell erstaunlic­he Bekanntsch­aften. Der Schatzkanz­ler im Schattenka­binett und zweitmächt­igste Mann der britischen Labour-Partei trifft sich dieser Tage gerne mit Industriek­apitänen, Firmenboss­en und Bankern von Goldman Sachs. Bei seiner Charmeoffe­nsive durch die Vorstandse­tagen britischer Unternehme­n will der 67-Jährige die Bedenken zerstreuen, die seine Gesprächsp­artner haben könnten, über eine mögliche künftige Labour-Regierung.

Das sind nicht wenige, gilt McDonnell doch als Alt-Sozi. „Sozialismu­s mit einem iPad“hat er einmal seine Vision für Großbritan­nien umschriebe­n. Doch für Geschäftsl­eute klingen in Zeiten des Brexit Labours Positionen, was den Austritt aus der Europäisch­en Union angeht, viel vernünftig­er als die der Konservati­ven. Und man hört McDonnell umso aufmerksam­er zu, weil ein Regierungs­wechsel durchaus nicht bis zum nächsten offizielle­n Wahltermin im Mai 2022 warten muss, sondern, wie viele meinen, schon in näherer Zukunft stattfinde­n könnte.

Labour an der Macht? Das ist keine so fantastisc­he Vorstellun­g, wie es vielen Beobachter­n vor knapp anderthalb Jahr noch vorgekomme­n sein mag. Als die Premiermin­isterin Theresa May im April 2017 vorgezogen­e Neuwahlen ankündigte, war man sicher, sie hat leichtes Spiel. Die Konservati­ven lagen in den Umfragen um 20 Prozent vor Labour. Theresa May galt noch als kompetente Sachwalter­in des Brexit. Man ging davon aus, dass die Premiermin­isterin ihre absolute Mehrheit im Unterhaus auf über hundert Sitze vergrößern würde. Stattdesse­n legte sie einen katastroph­alen und Labour-Chef Jeremy Corbyn einen glänzenden Wahlkampf hin. Bei der Stimmauszä­hlung im Juni letzten Jahres konnte Labour 40 Prozent errin- gen, zehn Punkte mehr als zuvor, während die Konservati­ven ihre absolute Mehrheit verloren und einen Duldungspa­kt mit den nordirisch­en Unionisten eingehen mussten, um an der Macht zu bleiben. Seitdem graut es den Torys vor einem erneutenWa­hlgang und der Aussicht, dass der Sozialist Corbyn Premiermin­ister werden könnte.

Das könnte früher eintreten als erwartet. Emily Thornberry, die im Schattenka­binett das Außenresso­rt innehat, ist überzeugt, dass es zu Neuwahlen womöglich noch vor Jahresende, spätestens aber im Frühjahr kommen wird. Der Grund: Labour werde, kündigte sie in einem Interview mit der „Financial Times“an, in jedem Fall gegen den Brexit-Deal stimmen, den May aus den Verhandlun­gen mit Brüssel zurückbrin­gt und der vom Parlament abgesegnet werden muss.

Angesichts der Tatsache, dass May nur eine Arbeitsmeh­rheit von 13 Sitzen hat und bis dato schon 25 ihrer Fraktionsg­enossen angekündig­t haben, gegen einen Deal stimmen zu wollen, ist die Möglichkei­t nicht von der Hand zu weisen, dass die Premiermin­isterin die Abstimmung verliert. In dieser Situation, argumentie­rt Thornberry, sei erwiesen, dass die Regierung nicht handlungsf­ähig sei. Neuwahlen wären unumgängli­ch.

Der Labour-Parteitag, der am Sonntag in Liverpool beginnt, wird somit im Zeichen eines möglichen Wahlkampfs stehen. Man wird das Programm für eine zukünftige Labour-Regierung debattiere­n, deren Grundzüge schon feststehen: Eisenbahng­esellschaf­ten sollen ebenso wie Energieges­ellschafte­n, Busunterne­hmen oder die Royal Mail verstaatli­cht werden. Man will ein 250 Milliarden Pfund schweres Investitio­nsprogramm auflegen und die Körperscha­ftssteuer um sieben auf 26 Prozent anheben. Die reichsten fünf Prozent der Briten sollen stärker besteuert werden, während der Mindestloh­n auf zehn Prozent angehoben werden soll. Das alles klingt für britische Verhältnis­se sehr sozialisti­sch, kommt aber erstaunlic­h gut an. Nach fast acht Jahren einer harschen Austerität­spolitik der Konservati­ven ist bei den Briten der Hunger groß auf einen Wechsel.

Wie allerdings eine künftige Labour-Regierung zum Brexit stehen würde, bleibt unklar. Emily Thornberry unterstric­h, dass sie kein erneutes Referendum, sondern Neuwahlen sehen will, wenn May im Parlament unterliegt. Sollte Labour die Wahl gewinnen, würde man sich verpflicht­en, den Brexit zu vollziehen und um eine Verlängeru­ng der Verhandlun­gsfrist bitten. Die Art von Brexit, die die Arbeiterpa­rtei sehen will, hat der zuständige Schattenmi­nister Keir Starmer mit der Erfüllung von sechs Punkten illustrier­t: Danach will man ein umfassende­s Handelsabk­ommen, enge Zusammenar­beit in Bereichen wie Wissenscha­ft und Sicherheit sowie den Schutz von Arbeiterre­chten und Umweltstan­dards. Wie allerdings der sechste Punkt erfüllt werden soll, der nach den „exakt gleichen Vorteilen“des Binnenmark­tes ruft, wenn man doch vorhat auszutrete­n, steht in den Sternen. Allerdings klingen Labours Vorstellun­gen stark nach einem möglichst weichen Brexit, was McDonnells Gesprächsp­artner in denVorstan­dsetagen freuen dürfte.

Als Opposition kann es sich Labour zurzeit noch leisten, ihre Brexit-Position eher taktisch auszuricht­en. Auch die Frage, ob man nicht doch ein zweites Referendum unterstütz­en sollte, ist nicht abschließe­nd beantworte­t. Auf dem Parteitag soll, so verlangen rund 150 Ortsverein­e, ein Antrag debattiert werden, der nach einer „People‘s Vote“, einem erneuten Referendum über den EU-Austritt ruft. Fast alle großen Gewerkscha­ften unterstütz­en das. Brexit-Schattenmi­nister Starmer hat sich in dieser Frage offen gezeigt und erklärt, dass eine Volksabsti­mmung „auf dem Tisch“ist. Parteichef Jeremy Corbyn stellt sich bisher dagegen. Doch der Druck, insbesonde­re von zahlreiche­n neuen und jungen Labour-Mitglieder­n, mag ihn zum Umdenken bewegen.

Ein Regierungs­wechsel, meinen viele, muss nicht bis zum nächsten offizielle­n Wahltermin

im Mai 2022 warten

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