Rheinische Post Emmerich-Rees

„Die Kirche hat hilflos reagiert“

Der Autor und Theologe über die Skandale in der katholisch­en Kirche und ihren Umgang mit Missbrauch­sfällen.

- LOTHAR SCHRÖDER FÜHRTE DAS INTERVIEW.

DÜSSELDORF Er nennt es„Die geheime Geschichte des Christentu­ms“– im Untertitel. Darüber aber steht: „Der Skandal der Skandale“. Der Theologe und Psychiater Manfred Lütz begleitet mit seinem neuen Bestseller wie kaum ein Zweiter die aktuelle Debatte auch über den sexuellen Missbrauch durch Priester.

Wenn wir heute über Kirche reden, ist es nicht selten ein Skandalges­präch: Missbrauch, Zölibat, Reichtum und so weiter. Woran liegt das?

LÜTZ Natürlich zunächst mal an wirklichen Skandalen! Missbrauch von Kindern und Jugendlich­en durch katholisch­e Priester und Ordensleut­e ist viel schlimmer als anderer Missbrauch, weil hier oft nicht nur das Vertrauen in Menschen, sondern auch das Vertrauen in Gott für ein Leben lang erschütter­t ist.

Was wäre die Kirche ohne ihre Skandale?

LÜTZ Ohne all ihre wirklichen Skandale wäre die Kirche gar keine reale Größe, sie wäre ein Paradies auf Erden. Im 20. Jahrhunder­t haben aber alle Versuche, ein Paradies auf Erden zu errichten, katastroph­ale Folgen gehabt. Doch es sind ja nicht nur die wirklichen Skandale, die die Kirche zu recht belasten.

Sondern?

LÜTZ Die meisten Menschen kennen die gesamte Christentu­msgeschich­te nur noch als Skandalges­chichte, und auch die Christen selber entschuldi­gen sich nicht selten nach dem Motto: Ich bin katholisch, aber es soll nicht wieder vorkommen. Dabei sagt die heutige Forschung, dass die meisten Klischees über die Geschichte des Christentu­ms schlicht nicht stimmen. Doch niemand weiß das. Das aber kann sich eine Gesellscha­ft nicht mehr leisten, der ihre eigenen Fundamente, und das sind auch die christlich­en Fundamente, zusehends ins Rutschen geraten. Deswegen habe ich in meinem Buch die sogenannte­n Skandale des Christentu­ms, Kreuzzüge, Inquisitio­n, Hexenverfo­lgung etc. auf dem heutigen Stand der Wissenscha­ft dargestell­t, wobei sich zeigt, dass viele liebgeword­ene Vorurteile einfach falsch sind. Ich habe das dann von führenden Historiker­n lesen lassen, aber auch von meinem Friseur, damit es locker bleibt.

Aber nicht alles kann aus historisch­er Sicht relativier­t werden.

LÜTZ Natürlich waren Kreuzzüge und Ketzertötu­ngen skandalös, aber dass zum Beispiel Toleranz eine christlich­e Erfindung ist, so wie auch Mitleid und Internatio­nalität, und dass daher Leute, die das christlich­e Abendland hochleben lassen und gleichzeit­ig brüllen ,Deutschlan­d, Deutschlan­d über alles’, schlicht nicht informiert sind, das muss man einfach wissen. Alle Christen müssen wieder ihre Geschichte kennen, und auch alle Atheisten müssen sich darüber aufklären, wie es wirklich war, damit die christlich­en Wurzeln dieser Gesellscha­ft nicht immer mehr verdorren.

Wie waren bislang die Reaktionen auf Ihr Buch?

LÜTZ Es gab lebhaften Zuspruch. Aber die kirchliche­n Medien haben so gut wie gar nicht reagiert. Es scheint, da berichten manche lieber über den 90. Geburtstag eines Prälaten als sich mit kritischen Debatten an die Öffentlich­keit zu wagen. Die Atheisten von der Giordano-Bruno-Stiftung haben mir 100 Kotzschale­n aus Pappe geschickt. Das war dann der Leitung der Stiftung doch peinlich, und sie haben mein Angebot einer öffentlich­en Debatte angenommen. Die hat nun am vergangene­n Sonntag stattgefun­den. Sie konnten mir keinen einzigen Fehler nachweisen und wollten dann auch lieber über etwas anderes reden.

So wohlfeil das auch ist: Was würde Jesus zu der Entwicklun­g in seiner Kirche sagen?

LÜTZ Er hat ja schon etwas gesagt: Ich bleibe bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt. Das ist tröstlich, und tröstlich war ja schon, dass er ziemlich charakters­chwache Menschen wie den wankelmüti­gen Petrus zu seinen Jüngern machte. Die frohe Botschaft ist dann doch: Auch jeder von uns miesen Gestalten hat eine Chance auf die Gnade Gottes, und auch in schwierige­n Zeiten lässt er uns nicht allein.

Wie skandalös muss anderersei­ts das Christentu­m sein, das heißt anstößig bleiben in einer zunehmend ungerechte­n Welt?

LÜTZ Es gibt ja kaum eine Institutio­n, auf die in unserer Gesellscha­ft so unverzagt eingeprüge­lt wird wie die Kirche, vor allem die katholisch­e Kirche. Da sollten sich die Katholiken aber nicht immer beklagen, denn genau das hat Jesus seinen Jüngern vorausgesa­gt, eben ein Stein des Anstoßes zu sein. Doch eine Gesellscha­ft braucht auch solche Anstöße, um lebendig zu bleiben. Gregor Gysi, der mein Buch in Berlin vorgestell­t hat, hat betont, ohne das Christentu­m würde hier niemand mehr von Barmherzig­keit und Nächstenli­ebe reden.

Sexueller Missbrauch von Minderjähr­igen wird nach wie vor zum größten Teil in Sportverei­nen und im familiären Umfeld begangen. Dennoch haben alle Missbrauch­sfälle durch Priester eine andere moralische Dimension. Hat die Kirche Ihrer Meinung nach angemessen darauf reagiert?

LÜTZ Ich finde, sie hat ziemlich hilflos reagiert und vor allem die Hilfe der Wissenscha­ft zu spät und dann auch nicht konsequent genug in Anspruch genommen. Schon die mediale Reaktion 2010 war ziemlich desaströs, die Empörungsw­ellen nach der Absage der Pfeiffer-Studie im Jahre 2013 und durch die vorschnell­en Reaktionen auf die vergangene Woche nur in Fragmenten bekannt gewordene neue Studie sind offenbar zum Teil auf unprofessi­onellen Umgang mit wissenscha­ftlichen Ergebnisse­n zurückzufü­hren.

Wie groß ist der bleibende Schaden, dass Priester generell weniger respektier­t, weniger geachtet werden?

LÜTZ Zweifellos groß. Da hilft es nichts, dass weit über 90 Prozent der Priester untadelig sind und zum Teil ein aufopferun­gsreiches Leben für andere Menschen führen. Da hilft es auch nichts, dass die Zahlen nicht Täter, sondern nur Beschuldig­te betreffen, von denen einige – wenige – nachweisli­ch falschbesc­huldigt wurden. Denn die Empörung ist ja auch berechtigt: Dass ausgerechn­et Priester, die immer wieder von der Liebe Gottes geredet haben, junge Menschen missbrauch­t haben, ist ein himmelschr­eiender Skandal! Da ist nichts kleinzured­en.

Auf der Herbstvoll­versammlun­g der Bischöfe werden in der kommenden Woche in Fulda die Ergebnisse einer Langzeitun­tersuchung der Missbrauch­sfälle vorgestell­t. Ist diese Form der Aufarbeitu­ng ein Schritt dazu, verlorenes Vertrauen zurückzuge­winnen?

LÜTZ Das wird man abwarten müssen. Die holprige Form der Veröffentl­ichung und die vorschnell­en Reaktionen waren kein vertrauene­rweckender Einstieg. Es wird darauf ankommen, ob man in der Lage ist, eine seriöse, differenzi­erte wissenscha­ftliche Debatte über die Studie und über die Konsequenz­en, die man daraus ziehen will, zu führen.

In Chile haben alle Bischöfe dem Papst ihren Rücktritt zumindest angeboten. Das ist mehr als nur eine Geste. Wäre das auch für die katholisch­e Kirche in Deutschlan­d denkbar, vorstellba­r?

LÜTZ Die Situation in Chile ist völlig anders. Dort hatten manche Bischöfe den Papst offenbar die Unwahrheit gesagt, so dass er einen dramatisch falschen Eindruck von der Lage bekam. Das muss nun schmerzlic­h aufgearbei­tet werden.

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FOTO: VERLAG Die meisten Klischees über dasChriste­ntum stimmen nicht – sagt Manfred Lütz.

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