„Die Kirche hat hilflos reagiert“
Der Autor und Theologe über die Skandale in der katholischen Kirche und ihren Umgang mit Missbrauchsfällen.
DÜSSELDORF Er nennt es„Die geheime Geschichte des Christentums“– im Untertitel. Darüber aber steht: „Der Skandal der Skandale“. Der Theologe und Psychiater Manfred Lütz begleitet mit seinem neuen Bestseller wie kaum ein Zweiter die aktuelle Debatte auch über den sexuellen Missbrauch durch Priester.
Wenn wir heute über Kirche reden, ist es nicht selten ein Skandalgespräch: Missbrauch, Zölibat, Reichtum und so weiter. Woran liegt das?
LÜTZ Natürlich zunächst mal an wirklichen Skandalen! Missbrauch von Kindern und Jugendlichen durch katholische Priester und Ordensleute ist viel schlimmer als anderer Missbrauch, weil hier oft nicht nur das Vertrauen in Menschen, sondern auch das Vertrauen in Gott für ein Leben lang erschüttert ist.
Was wäre die Kirche ohne ihre Skandale?
LÜTZ Ohne all ihre wirklichen Skandale wäre die Kirche gar keine reale Größe, sie wäre ein Paradies auf Erden. Im 20. Jahrhundert haben aber alle Versuche, ein Paradies auf Erden zu errichten, katastrophale Folgen gehabt. Doch es sind ja nicht nur die wirklichen Skandale, die die Kirche zu recht belasten.
Sondern?
LÜTZ Die meisten Menschen kennen die gesamte Christentumsgeschichte nur noch als Skandalgeschichte, und auch die Christen selber entschuldigen sich nicht selten nach dem Motto: Ich bin katholisch, aber es soll nicht wieder vorkommen. Dabei sagt die heutige Forschung, dass die meisten Klischees über die Geschichte des Christentums schlicht nicht stimmen. Doch niemand weiß das. Das aber kann sich eine Gesellschaft nicht mehr leisten, der ihre eigenen Fundamente, und das sind auch die christlichen Fundamente, zusehends ins Rutschen geraten. Deswegen habe ich in meinem Buch die sogenannten Skandale des Christentums, Kreuzzüge, Inquisition, Hexenverfolgung etc. auf dem heutigen Stand der Wissenschaft dargestellt, wobei sich zeigt, dass viele liebgewordene Vorurteile einfach falsch sind. Ich habe das dann von führenden Historikern lesen lassen, aber auch von meinem Friseur, damit es locker bleibt.
Aber nicht alles kann aus historischer Sicht relativiert werden.
LÜTZ Natürlich waren Kreuzzüge und Ketzertötungen skandalös, aber dass zum Beispiel Toleranz eine christliche Erfindung ist, so wie auch Mitleid und Internationalität, und dass daher Leute, die das christliche Abendland hochleben lassen und gleichzeitig brüllen ,Deutschland, Deutschland über alles’, schlicht nicht informiert sind, das muss man einfach wissen. Alle Christen müssen wieder ihre Geschichte kennen, und auch alle Atheisten müssen sich darüber aufklären, wie es wirklich war, damit die christlichen Wurzeln dieser Gesellschaft nicht immer mehr verdorren.
Wie waren bislang die Reaktionen auf Ihr Buch?
LÜTZ Es gab lebhaften Zuspruch. Aber die kirchlichen Medien haben so gut wie gar nicht reagiert. Es scheint, da berichten manche lieber über den 90. Geburtstag eines Prälaten als sich mit kritischen Debatten an die Öffentlichkeit zu wagen. Die Atheisten von der Giordano-Bruno-Stiftung haben mir 100 Kotzschalen aus Pappe geschickt. Das war dann der Leitung der Stiftung doch peinlich, und sie haben mein Angebot einer öffentlichen Debatte angenommen. Die hat nun am vergangenen Sonntag stattgefunden. Sie konnten mir keinen einzigen Fehler nachweisen und wollten dann auch lieber über etwas anderes reden.
So wohlfeil das auch ist: Was würde Jesus zu der Entwicklung in seiner Kirche sagen?
LÜTZ Er hat ja schon etwas gesagt: Ich bleibe bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt. Das ist tröstlich, und tröstlich war ja schon, dass er ziemlich charakterschwache Menschen wie den wankelmütigen Petrus zu seinen Jüngern machte. Die frohe Botschaft ist dann doch: Auch jeder von uns miesen Gestalten hat eine Chance auf die Gnade Gottes, und auch in schwierigen Zeiten lässt er uns nicht allein.
Wie skandalös muss andererseits das Christentum sein, das heißt anstößig bleiben in einer zunehmend ungerechten Welt?
LÜTZ Es gibt ja kaum eine Institution, auf die in unserer Gesellschaft so unverzagt eingeprügelt wird wie die Kirche, vor allem die katholische Kirche. Da sollten sich die Katholiken aber nicht immer beklagen, denn genau das hat Jesus seinen Jüngern vorausgesagt, eben ein Stein des Anstoßes zu sein. Doch eine Gesellschaft braucht auch solche Anstöße, um lebendig zu bleiben. Gregor Gysi, der mein Buch in Berlin vorgestellt hat, hat betont, ohne das Christentum würde hier niemand mehr von Barmherzigkeit und Nächstenliebe reden.
Sexueller Missbrauch von Minderjährigen wird nach wie vor zum größten Teil in Sportvereinen und im familiären Umfeld begangen. Dennoch haben alle Missbrauchsfälle durch Priester eine andere moralische Dimension. Hat die Kirche Ihrer Meinung nach angemessen darauf reagiert?
LÜTZ Ich finde, sie hat ziemlich hilflos reagiert und vor allem die Hilfe der Wissenschaft zu spät und dann auch nicht konsequent genug in Anspruch genommen. Schon die mediale Reaktion 2010 war ziemlich desaströs, die Empörungswellen nach der Absage der Pfeiffer-Studie im Jahre 2013 und durch die vorschnellen Reaktionen auf die vergangene Woche nur in Fragmenten bekannt gewordene neue Studie sind offenbar zum Teil auf unprofessionellen Umgang mit wissenschaftlichen Ergebnissen zurückzuführen.
Wie groß ist der bleibende Schaden, dass Priester generell weniger respektiert, weniger geachtet werden?
LÜTZ Zweifellos groß. Da hilft es nichts, dass weit über 90 Prozent der Priester untadelig sind und zum Teil ein aufopferungsreiches Leben für andere Menschen führen. Da hilft es auch nichts, dass die Zahlen nicht Täter, sondern nur Beschuldigte betreffen, von denen einige – wenige – nachweislich falschbeschuldigt wurden. Denn die Empörung ist ja auch berechtigt: Dass ausgerechnet Priester, die immer wieder von der Liebe Gottes geredet haben, junge Menschen missbraucht haben, ist ein himmelschreiender Skandal! Da ist nichts kleinzureden.
Auf der Herbstvollversammlung der Bischöfe werden in der kommenden Woche in Fulda die Ergebnisse einer Langzeituntersuchung der Missbrauchsfälle vorgestellt. Ist diese Form der Aufarbeitung ein Schritt dazu, verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen?
LÜTZ Das wird man abwarten müssen. Die holprige Form der Veröffentlichung und die vorschnellen Reaktionen waren kein vertrauenerweckender Einstieg. Es wird darauf ankommen, ob man in der Lage ist, eine seriöse, differenzierte wissenschaftliche Debatte über die Studie und über die Konsequenzen, die man daraus ziehen will, zu führen.
In Chile haben alle Bischöfe dem Papst ihren Rücktritt zumindest angeboten. Das ist mehr als nur eine Geste. Wäre das auch für die katholische Kirche in Deutschland denkbar, vorstellbar?
LÜTZ Die Situation in Chile ist völlig anders. Dort hatten manche Bischöfe den Papst offenbar die Unwahrheit gesagt, so dass er einen dramatisch falschen Eindruck von der Lage bekam. Das muss nun schmerzlich aufgearbeitet werden.