Der Denker der Geschwindigkeit
Paul Virilio prägte den Begriff des „rasenden Stillstands“. Nun starb er 86-jährig.
DÜSSELDORF Manchmal gibt es das: Man hört den Namen eines Denkers, und schon ist man irgendwie sprungbereit und elastisch, man spürt so einen Kitzeln unterm Schädeldach und freut sich auf das, was nun kommt. Paul Virilio war so einer, eine inspirierende und anregende Persönlichkeit. Er war ultra-interessiert an der Gegenwart; er untersuchte sie so genau, dass er die Flöhe bereits husten hörte, bevor sie sich überhaupt erkältet hatten.
Der Franzose erfand die Dromologie, die Wissenschaft von der Geschwindigkeit also, und weil er ursprünglich Stadtplaner war und als Philosoph und Kulturkritiker Autodidakt, gab es in seiner Disziplin keine Systematik, sondern nur Neugier, Einfallsreichtum und die Lust am wilden Denken. Er vernetzte Technik, Kunst, politische Essayistik und Vision. Manchmal vergaloppierte er sich, das ist bei Tempomachern normal, und bisweilen erging er sich in Beschwörungen, wo er besser Analysen geliefert hätte. Doch meistens bereicherte er das Denken seiner Zuhörer. Virilio fand Begriffe für die Zeit der verabsolutierten Geschwindigkeit, für den digitalisierten Lebensraum. Von ihm stammen die Formeln des „rasenden Stillstands“und der„Unordnung der Simultanitäten“. Er beschrieb schon früh Phänomene wie Fake News und asymmetrische Kriegsführung.
Einerseits begrüßte er die Zukunft, die Vernetzung von allem über die Zeiten hinweg. Anderseits sah er darin eine Bedrohung für die Demokratie, zumal er als Triebfeder der Beschleunigung stets die Sphäre des Militärischen betrachtete. Deshalb regte er die Einrichtung einer Kontrollinstanz an, die er „Ministerium für Zeit“nannte.
Er arbeitete als Architekt, in dem Alain-Resnais-Film „Hiroshima, mon amour“(1959) ist ein Bauwerk von ihm zu sehen, er dokumentierte die Bunker der französischen Atlantikküste, und er sorgte dafür, dass Theorie wieder sexy wurde – man erinnere sich an das schicke Merve-Bändchen mit dem von der Gruppe Kraftwerk entlehnten Titel „Fahren, fahren, fahren . . .“. Er selbst entzog sich dem Zwang zur Mobilität: Ein Handy, ein Auto und sogar das Internet benutze er nicht.
Wie erst jetzt bekannt wurde, starb Paul Virilio bereits am 10. September 86-jährig in Paris. Todesursache: Herzstillstand.