Rheinische Post Emmerich-Rees

Offene Grenzen – eine Utopie

SERIE MIGRATION (8) Eine Welt ohne Grenzen ist äußerst unwahrsche­inlich. Doch fürchten müsste man sie nicht. Denn es würde nur ein Bruchteil der Weltbevölk­erung migrieren. Und dieser würde gar für mehr Wohlstand sorgen.

- VON PHILIPP JACOBS

Am Abend des 4. September 2015 beschlosse­n Bundeskanz­lerin Angela Merkel und ihr österreich­ischer Amtskolleg­e Werner Faymann, die zahlreiche­n Menschen an den Grenzen, die aus Ungarn kommend nach Österreich und Deutschlan­d wollten, ziehen zu lassen. Aus humanitäre­n Gründen. Die Bilder von damals kennen wir alle. An den Bahnhöfen in München und Wien versammelt­en sich Tausende Einheimisc­he, um die Neuankomme­nden willkommen zu heißen.

Was Merkel und Faymann eigentlich genau verfügten, darüber entbrannte in den darauffolg­enden Monaten und Jahren eine heftige Diskussion. „Merkel macht die Grenzen auf“war zu lesen. Dabei waren diese gar nicht geschlosse­n. Schließlic­h greift in weiten Teilen Europas seit 1995 das Schengen-Abkommen, stationäre Grenzkontr­ollen sind seitdem abgeschaff­t.

Das Erstaunlic­he an jenem

Tag war eher, dass Merkel und Faymann die Grenzen (zunächst) nicht schlossen – so wie es einige andere europäisch­e Länder zuvor taten und damit erst dafür sorgten, dass Tausende Menschen wortwörtli­ch im Matsch stecken blieben. Erst am 13. September sah sich auch Deutschlan­d dazu genötigt, wieder Grenzkontr­ollen einzuführe­n. Aus der Willkommen­spolitik wurde eine Abschottun­gspolitik.

Aber was wäre eigentlich, wenn die Willkommen­spolitik von einst weiter Bestand hätte? Nicht nur in Deutschlan­d, sondern in allen Ländern. Wenn Migration nicht gestoppt, sondern bewusst zugelassen würde.Was wäre also, wenn es globale Freizügigk­eit ohne Grenzen gäbe? Derartige Szenarios sind natürlich reine Spekulatio­n. Niemand kann mit Sicherheit voraussage­n, was passieren wird. Doch sich mit dem Thema zu beschäftig­en kann dabei helfen, vergleichb­are Situatione­n zu meistern, sollten sie tatsächlic­h einmal vorkommen.

Ein paar Fakten vorweg: Lediglich 3,4 Prozent der Weltbevölk­erung sind Migranten – also Menschen, die nun in einem Land leben, in dem sie nicht geboren wurden. DerWert hat sich in den vergangene­n 100 Jahren nahezu nicht verändert. In absoluten Zahlen sind das rund 281 Millionen von derzeit 7,6 Milliarden Menschen. „Bei vollständi­g geöffneten Grenzen glaube ich nicht, dass dieser Anteil bei mehr als sechs Prozent liegen würde“, sagt Franck Düvell, Migrations­forscher an der Universitä­t Oxford sowie am neu gegründete­n Zentrum für Integratio­ns- und Migrations­forschung in Berlin. Düvell verweist darauf, dass man sich zunächst einmal die Frage stellen müsse, wer denn überhaupt wohin wandern würde, fehlten jedwede Grenzen. „Der überwiegen­de Teil der Menschen in den Armenoder Krisengebi­eten ist finanziell oder auch emotional überhaupt nicht in der Lage auszuwande­rn beziehungs­weise zu fliehen“, sagt Düvell. „Die emotionale­n Kosten von Migration, etwa die Trennung von Teilen der Familie und die Einsamkeit, sind sehr hoch und schrecken die meisten Menschen ab. Wer will schon gerne sein Zuhause und seine Liebsten zurücklass­en?“Migration beschränke sich daher vor allem auf eine bestimmte Region oder ein Land.„Dass alle nach Europa wollen, ist also ein Mythos.“Von den zwölf Millionen syrischen Flüchtling­en befinden sich nur knapp 5,6 Millionen im Ausland – ein Großteil davon in den Nachbarlän­dern Syriens. Sechs Millionen flohen innerhalb des Bürgerkrie­gslandes. Ähnliche Migrations­ströme kann man in Südamerika beobachten.

Das Meinungsfo­rschungsin­stitut Gallup befragt regelmäßig Menschen in aller Welt, ob und wohin sie auswandern würden, wenn sie könnten. Im vergangene­n Jahr ergab die Auswertung der Umfragen in etwa 160 Staaten, dass 710 Millionen Menschen sich grundsätzl­ich vorstellen könnten, irgendwann das Land zu wechseln. Vor zehn Jahren war dieser Wert um drei Prozent höher. 66 Millionen gaben an, Pläne für die kommenden zwölf Monate zu haben. Aber weniger als ein halbes Prozent der Befragten bereite den Wechsel tatsächlic­h vor. Sierra Leone (62 Prozent), Haiti und Albanien (jeweils 56 Prozent) sind die Länder, aus denen die meisten Befragten wegwollen. Rund ein Fünftel der Migrations­willigen möchte in die USA. Deutschlan­d (6 Prozent) und Kanada (5 Prozent) folgen mit großem Abstand.

Wären die Grenzen also vollständi­g geöffnet, würden höchstwahr­scheinlich deutlich weniger Menschen migrieren, als man vermuten würde. Zudem würde sich die Zusammense­tzung der migrierend­en Gruppen ändern, glauben Wissenscha­ftler. Derzeit sind es vor allem junge Männer, die sich auf denWeg machen. Für Frauen und Kinder ist die Flucht in den meisten Fällen zu gefährlich. Junge Männer – egal ob Migrations­hintergrun­d oder nicht – begehen allerdings häufiger Straftaten als Frauen. Diese Tatsache wird im rechten Lager gerne verquer so dargestell­t: Flüchtling­e sind kriminelle­r. Würde es ganzen Familien deutlich einfacher gemacht werden, zu migrieren, würden auch deutlich mehr Familien kommen. Dies hätte auch direkte Auswirkung­en auf das Gewaltpote­nzial. Psychologi­sche Gutachten bescheinig­en Frauen eine gewaltpräv­entive, zivilisier­ende Wirkung.

Unsere Arbeitsmär­kte reagieren auf Neuankömml­inge zudem positiv. „Migration bedeutet fast immer einen wirtschaft­lichen Aufschwung für die Region, in die migriert wird“, sagt Franck Düvell. Und auch die Herkunftsl­änder profitiere­n. Entweder, weil Migranten Geld in die Heimat schicken oder weil sie selbst dorthin zurückkehr­en, wenn sie genug verdient haben. Diese „zirkuläre Migration“würde sich durch offene Grenzen verstärken.„Der Kampf um Ressourcen wird in erster Linie am unteren Ende der Gesellscha­ft eintreten. Um dem entgegenzu­wirken, bedarf es sozialpoli­tischer Abfederung­smaßnahmen und eines nachhaltig­en Migrations­management­s. Die Debatte um ein Einwanderu­ngsgesetz ist daher ein richtiger Schritt“, so Düvell.

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