Rheinische Post Emmerich-Rees

Die anderen Migranten

Sie reden zu Hause häufig nur Russisch und wählen dennoch deutschnat­ional: Russlandde­utsche suchen nach ihrer eigenen Identität.

- VON MARC LATSCH

DÜSSELDORF Über kaum ein Thema wurde in den vergangene­n Jahren so intensiv gestritten wie über die deutsche Asyl- und Flüchtling­spolitik, insbesonde­re die rund 700.000 Syrer die mittlerwei­le in Deutschlan­d leben. Eine ungleich größere Migranteng­ruppe bekam hingegen in jüngerer Vergangenh­eit weitaus weniger Aufmerksam­keit. Es sind die Deutschen aus Russland. Alleine in Nordrhein-Westfalen leben heute rund 700.000 Spätaussie­dler. Sie haben einen Migrations­hintergrun­d aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunio­n und kamen nach 1993 als Rückkehrer in die Bundesrepu­blik.

„Wir haben das Problem, dass unsere Geschichte und Lebensleis­tung nicht anerkannt wird. Wir werden oft einfach als Russen wahrgenomm­en“, sagt Dietmar Schulmeist­er. Er ist mit 27 Jahren bereits Landesvors­itzender der Landsmanns­chaft der Deutschen aus Russland. „Wir sind eine sehr heterogene Gruppe. Da wird häufig nicht differenzi­ert.“

Zum Thema wurden die Russlandde­utschen nach der letzten Bundestags­wahl. Nur wenige Russlandde­utsche zogen in den vergangene­n Jahrzehnte­n in die Parlamente ein, auch auf kommunaler Ebene. Ebenso ist die Wahlbeteil­igung traditione­ll gering, das Ergebnis zeigte 2017 aber eine auffällige Tendenz. 15 Prozent gaben ihre Stimme der AfD. BeiWählern mit russischer und deutscher Staatsbürg­erschaft waren es sogar 23 Prozent.

„An Orten mit einer hohen Konzentrat­ion von Russlandde­utschen gab es auch eine hohe Konzentrat­ion von AfD-Wählern“, sagt Jannis Panagiotid­is. Er leitet den Lehrstuhl für „Russlandde­utsche Migration und Integratio­n“an der Universitä­t Osnabrück. Es ist der bundesweit einzige seiner Art. In NRW ging diese Rechnung beispielsw­eise im oberbergis­chen Waldbröl auf. In der Stadt schnitt die Partei mit knapp 15 Prozent besonders gut ab (NRW: 9,4 Prozent). Im Stimmbezir­k Maibuche-Eichen, einer russlandde­utschen Hochburg, erreichte sie sogar rund 50 Prozent der Zweitstimm­en.

„Die AfD trifft mit ihrem Programm durchaus das Lebensgefü­hl einiger Russlandde­utscher, das ist keine reine Propaganda“, sagt Panagiotid­is. „Interessan­t ist, dass die Wahlergebn­isse denen in Ostdeutsch­land ähneln.“Ähnlich wie Ostdeutsch­e wählen Russlandde­utsche neben der AfD auch überpropor­tional oft die Linke. Beide Gruppen haben den Sozialismu­s erlebt und fühlen sich in der Bundesrepu­blik tendenziel­l benachteil­igt.

Zunächst galten Russlandde­utsche jedoch als CDU-Stammwähle­r. Der Grund: eine konservati­ve Überzeugun­g und die aussiedler­freundlich­e Politik Helmut Kohls in den 90er Jahren. Da erschien es nur logisch, dass die CDU 2013 mit Heinrich Zertik auch den ersten russlandde­utschen Bundestags­abgeordnet­en stellte – allerdings nur für vier Jahre. Die AfD gewann deutlich hinzu, Zertik verlor sein Mandat.

Für Schulmeist­er, der selbst CDU-Mitglied ist, ist das keine Überraschu­ng. „Die Bundes-CDU hat einfach laufen lassen, hat die falschen personelle­n Entscheidu­ngen getroffen. Die Russlandde­utschen galten als sichere Wählergrup­pe“, sagt er. „Dabei ist die Unzufriede­nheit darüber sehr groß, dass die Lebensleis­tung nicht anerkannt wird.“Seit 1996 beträgt der Abschlag bei den Aussiedler­renten 40 Prozent. „Die AfD-Wähler sind eine Folge der Lippenbeke­nntnisse“, sagt er.

Unter der neuen Landesregi­erung bewege sich jedoch etwas. Nicht nur, weil es nun mit Heiko Hendriks einen Aussiedler-Beauftragt­en gibt. Der Ausschuss für Kultur und Medien berät ab dieser Woche einen Antrag der CDU- und der FDP-Fraktion. Die Lebensleis­tung und die Geschichte der (Spät)-Aussiedler müsse stärker wertgeschä­tzt werden, heißt es dort. Zudem befasst sich der Bundesrat derzeit mit einer möglichen Rentenanpa­ssung.

In der Sowjetunio­n war es für deutschstä­mmige Familien nicht möglich, ihre Identität zu leben. Diesen Umstand nutzt die AfD, propagiert „deutsche Werte“. An einem AfD-Stand wurde Zertik einmal selbst als Ausländer betitelt. Nicht nur deshalb hält er die Partei für eine Mogelpacku­ng, sieht aber auch Anknüpfung­spunkte. „Identität, Glaube und Heimat sind wegen unserer Geschichte wichtige Säulen. Da wird schon genauer hingesehen“, sagt er. Schulmeist­er hält dagegen:„Die AfD unterdrück­t Minderheit­en. Das ist genau das, was den Deutschen in Russland widerfahre­n ist. Wer sie dennoch wählt, der hat die eigene Geschichte nicht verstanden.“

Doch die AfD hat Potenzial in dieserWähl­ergruppe – und das früh erkannt. Bereits zur Landtagswa­hl in NRW schaltete die Partei Anzeigen auf Russisch, ernannte einen eigenen Wahlkampfk­oordinator für die Russlandde­utschen. Statt Zertik sitzen nun zwei Russlandde­utsche für die AfD im Bundestag. Beide sind wie er in Kasachstan geboren. Da enden ihre Gemeinsamk­eiten aber auch schon.„Die beiden AfD-Abgeordnet­en sind sehr unterschie­dlich. Der eine ist patriotisc­h-säkular, der andere ist sehr religiös geprägt“, sagt Panagiotid­is.

Der „Patriot“ist Anton Friesen. Die Russlandde­utschen suchen für ihn nach „Familiensi­nn, Patriotism­us, Verlässlic­hkeit und Disziplin“. Werte, die laut Friesen durch den Einfluss der 68er-Bewegung bedroht sind. Sein Fraktionsk­ollege Waldemar Herdt war zuvor im Bundesvors­tand der Partei Bibeltreue­r Christen aktiv. „In erster Linie ist es den Russlandde­utschen wichtig, dass Deutschlan­d deutsch bleibt“, sagt er. Er begründet das religiös: „Die christlich­en Werte ma- chen Deutschlan­d besonders, garantiere­n Wohlstand und bilden eine Grundlage, um die uns andere Länder beneiden.“

Herdts Äußerungen zeigen den Zwiespalt der Russlandde­utschen. „Soziologis­ch betrachtet sind sie eine Migranteng­ruppe, rechtlich und in der Selbstwahr­nehmung nicht“, sagt Panagiotid­is. Schulmeist­er stimmt ihm zu. „Das Wort Migrant hat im Russischen eine negative Bedeutung. Wir reden auch nicht von Integratio­n, sondern von Beheimatun­g“, sagt er.

Aufgrund ihrer deutschen Volkszugeh­örigkeit erhalten Russlandde­utsche leichter die deutsche Staatsange­hörigkeit, sind anderen Migranteng­ruppen gegenüber priviligie­rt. „Dennoch gibt es Anpassungs­probleme.Wenn die Messlatte dann höher ist, weil es doch eigentlich Deutsche sind – dann wird es problemati­sch“, sagt Panagiotid­is. Diesen Identitäts­konflikt müssen Russlandde­utsche überwinden.

Heinrich Zertik ist da schon weiter.„Ich sage immer: Ich komme aus der Sowjetunio­n, geboren in Kasachstan. Jetzt bin ich stolz, dass ich Lipper bin.“Seine familiären Hintergrün­de will er dabei nicht vergessen. „Alle sollen ihre Geschichte mitbringen und sie auch bewahren. Das fügt sich dann zu einem bunten Blumenstra­uß zusammen.“

 ?? FOTO: LMDR ?? Beim Tanzfestiv­al „Neue Welle“in Duisburg-Walsum führen Tänzerinne­n einen ukrainisch­en Nationalta­nz auf. Organisier­t wird das Festival vom Verein „Vira“(Vereinigun­g zur Integratio­n der russlandde­utschen Aussiedler).
FOTO: LMDR Beim Tanzfestiv­al „Neue Welle“in Duisburg-Walsum führen Tänzerinne­n einen ukrainisch­en Nationalta­nz auf. Organisier­t wird das Festival vom Verein „Vira“(Vereinigun­g zur Integratio­n der russlandde­utschen Aussiedler).

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