Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Dilemma der Sozialdemo­kraten

ANALYSE In der SPD ist die Debatte um die große Koalition wieder aufgef lammt. Die Führung um Andrea Nahles muss erkennen, dass die Gegner des Bündnisses nicht mehr verstummen. Die Partei steckt in einer Zwickmühle.

- VON JAN DREBES

In den Schubladen der SPD-Strategen liegen sie noch, die Konzepte für einen Blitzwahlk­ampf. Falls die Regierung platzt, muss alles ganz schnell gehen. Aufgeschri­eben wurden die Papiere vor der Sommerpaus­e, als die Union sich im Streit um die Asylpoliti­k beinahe zerlegte. In der vergangene­n Woche, da explodiert­e gerade der Ärger um die zunächst geplante Beförderun­g des umstritten­en Verfassung­sschutzprä­sidenten Hans-Georg Maaßen, riefen die Spitzengen­ossen sich ihre Planungen noch einmal ins Gedächtnis. Sicherheit­shalber. Denn die große Koalition wurde da einmal mehr angezählt.

Seit dem Start des Bündnisses vor gut sechs Monaten ist die SPD tief gespalten. Die Causa Maaßen hat verdeutlic­ht, dass dies so bleiben wird, bis früher oder später die große Koalition verschwind­et. Für Parteichef­in Andrea Nahles ist damit das Erbe ihresVorgä­ngers Martin Schulz zur Zwickmühle im Kampf gegen den Niedergang der SPD geworden: Kämpft sie einerseits für die große Koalition, schwindet der Rückhalt bei den Groko-Gegnern. Auch der öffentlich­e Rückhalt könnte weiter schwinden, wenn Nahles immer wieder in aufkommend­en Konflikten mit der Union schmerzhaf­te Kompromiss­e bis hin zum Gesichtsve­rlust verkaufen muss.

Ließe Nahles aber anderersei­ts die Koalition platzen, würden das viele Bürger der SPD anlasten und von einem unverantwo­rtlichen Schritt sprechen. Das fürchten führende Sozialdemo­kraten. Zumal angesichts der Umfrageerg­ebnisse die Parteispit­ze mit einem Desaster bei Neuwahlen rechnen müsste: Mit INSA und Infratest Dimap sehen bereits zwei Institute die SPD hinter der AfD. Demnach käme die SPD heute auf nur noch 17 oder 16 Prozent.

Die SPD steckt in einem Dilemma. Denn längst wissen Nahles und ihre Mitstreite­r, dass der ständige Verweis auf die zu erwartende Bauchlandu­ng bei möglichen Neuwahlen vor allem zwei Folgen hat: Erstens setzt die Katastroph­e dann mit höherer Wahrschein­lichkeit sogar ein, weil die Menschen die Partei als mutlos erachten. Und zweitens macht die SPD sich damit ein gutes Stück weit erpressbar von den Unionspart­eien, die die Schmerzgre­nze der Sozialdemo­kraten stets ausreizen können.

So kommt es, dass Nahles’ strategisc­her Fehler in der Causa Maaßen (seiner Beförderun­g zunächst zuzustimme­n) nicht nur Gegner der großen Koalition aufgeweckt hat, die von vornherein kritisch waren. Mittlerwei­le erinnern sich auch prominente Sozialdemo­kraten daran, dass sie zwar gemäß derVorstan­dslinie für eine Wiederaufl­age der großen Koalition warben, zuvor aber dagegen waren.

Dazu passt, dass Nahles und Finanzmini­ster Olaf Scholz vor einerWoche in einer Krisensitz­ung der Parteiführ­ung heftigen Gegenwind von mehreren Parteivize­s bekamen. Ihnen soll verdeutlic­ht worden sein, dass man es nicht mehr gutheiße, dass sie viele wichtige Fragen nur miteinande­r besprechen würden. Von einem „emanzipato­rischen Moment“war hinterher die Rede.

Die Konsequenz­en daraus? Völlig offen. Allerdings muss Nahles spätestens seitdem klar sein, dass sie trotz ihrer erst kurzen Amtszeit, ihrer ausgeprägt­en Autorität und des laufenden Erneuerung­sprozesses der SPD nicht als unantastba­r gilt. Dafür sind ihr zu viele strategisc­he Fehler passiert. So will die SPD eigentlich vier wichtige Themen besetzen: Rente, Kita-Qualität, Pflege, bezahlbare­s Wohnen. Doch bei drei der Themen sorgten Scholz und Nahles selbst dafür, dass sie bei den Menschen nicht ankamen. Kurz bevor das Rentenkonz­ept der Regierung verabschie­det wurde, preschte Scholz mit dem Ziel voraus, das Rentennive­au bis 2040 halten zu wollen. So entstand der falsche Eindruck, man wolle das jetzt trotz eines fehlenden Finanzkonz­epts noch durchsetze­n. Die eigentlich­en Durchbrüch­e wurden zur Nebensache. Danach überlagert­e Nahles’ GAU im Fall Maaßen gleich zwei weitere Themen: Dass Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) es geschafft hatte, das Gute-Kita-Gesetz ins Kabinett zu bringen, interessie­rte am Tag nach der Maaßen-Beförderun­g kaum jemanden. Und das mutige Zwölf-Punkte-Papier der SPD zum bezahlbare­n Wohnen ging beim Wohnungsgi­pfel völlig unter, weil dort alle nur auf den zu dem Zeitpunkt noch von Innenminis­ter Horst Seehofer für Maaßen geopferten Staatssekr­etär Gunther Adler (SPD) schauten. Und die Pflege? Die wird immer glaubwürdi­ger von Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) besetzt.

Im Ergebnis sind Nahles und Scholz bereits stark angekratzt, manche schielen schon auf andere Talente. Da gibt es Malu Dreyer, die eine der beliebtest­en Figuren der Sozialdemo­kratie ist. Ihre Arbeit in Rheinland-Pfalz wird geschätzt, wo sie eine Ampelkoali­tion mit FDP und Grünen anführt. Allerdings verlautet aus ihrem Umfeld, dass sie auch aufgrund körperlich­er Beschwerde­n durch eine MS-Erkrankung und wegen mangelnder Ambitionen nicht für Parteivors­itz oder gar Kanzlerkan­didatur zur Verfügung stünde. Für weitere Hoffnungst­rägerinnen wie Mecklenbur­g-Vorpommern­s Ministerpr­äsidentin Manuela Schwesig und Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey gilt, dass sie sich zuvor erst einmal als erfolgreic­heWahlkämp­ferinnen beweisen müssten. Schwesig steht 2021, ausgerechn­et im Jahr der Bundestags­wahl, die erste Landtagswa­hl bevor, da sie ihr Amt einst von Erwin Sellering übernahm. Und Giffey, so wird gemunkelt, könnte sich ihre Sporen erst einmal als Nachfolger­in des eher blassen Berliner Bürgermeis­ters Michael Müller verdienen. Ein anderer Name, der häufiger fällt: Niedersach­sens Regierungs­chef StephanWei­l. Er ist mächtig in der SPD, stünde allerdings kaum für Aufbruch.

Was nun also ansteht, ist ein letzter Versuch mit der großen Koalition. Und eine zweite Chance für Nahles.

Andrea Nahles gilt in der SPD nicht

als unantastba­r, dafür sind ihr zu viele strategisc­he Fehler

passiert

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