Ein Spiel und vier Geschichten
Gut 80.000 Zuschauer erleben im Dortmunder Stadion ein denkwürdiges Spiel. Das 4:3 des Tabellenführers gegen den FC Augsburg erzielt Paco Alcacer in letzter Sekunde.
DORTMUND Zum Glück haben die Baumeister des Dortmunder Stadions bei der Statik gut aufgepasst. Die Betonschüssel hält deshalb auch außerordentlichen Belastungen stand. Beim Bundesliga-Spiel gegen den FC Augsburg brachten die Fans der Borussia ihre Heimspielstätte vor allem in der Schlussphase zum Beben wie zuletzt vielleicht im April 2013 beim 3:2-Champions-League-Erfolg über Malaga. Ähnlich wie vor fünf Jahren schoss der BVB das entscheidende Tor gegen Augsburg erst unmittelbar vor dem Abpfiff, Paco Alcacer platzierte einen Freistoß rechts an der Mauer vorbei zum 4:3-Endstand ins Netz. Und genau wie das 3:2 gegen Malaga erzählte dieses Spiel gleich mehrere Geschichten.
Da war die eines Spiels mit einer bemerkenswerten Dramaturgie. Darum machte sich zunächst mal der Gast verdient. Augsburg machte dem großen Favoriten das Leben schwer, störte den Aufbau, verdichtete das Mittelfeld, hielt Dortmund von der Entwicklung des eigenen Spiels lange erfolgreich ab. Der Gast ging zweimal in Führung, durch ein typisches Mittelstürmer-Tor von Alfred Finnbogason zum 0:1 und durch ein Traumtor von Philipp Max zum 1:2, an das sich die BVB-Spieler nur deshalb erinnern, weil es Fernsehaufzeichnungen davon gibt. In Real-Geschwindigkeit ging es zu schnell.
Als Dortmund sieben Minuten vor dem Ende das Spiel mit dem 3:2 gedreht zu haben schien, schlug Augsburg noch einmal mit dem Ausgleich zum 3:3 zu. Doch mit dem letzten Schuss sicherte Dortmund doch noch die Tabellenführung. Während das Fußballvolk auf der Tribüne tobte, sagte Augsburgs Trainer Manuel Baum: „Das ist wirklich bitter, wir haben uns nicht versteckt und eigentlich ein großartiges Spiel gemacht.“Belohnt wurde es nicht, weil sich der Gast„zwei Unachtsamkeiten“(Baum) leistete, die Dortmund im Stil einer Spitzenmannschaft bestrafte.
Die zweite Geschichte ist die des unerwarteten Comebacks von Mario Götze. Bislang hat der neue Trainer Lucien Favre nicht erkennen las- sen, dass das einst größte deutsche Fußballtalent bei ihm auf dem Rückweg zum Stammspieler sein könnte. Dafür gab es auch am Samstag keine Anzeichen. Immerhin aber stand Götze mal wieder im Aufgebot. Eine Viertelstunde vor Schluss schickte sein Coach ihn auf den Rasen, das sorgte für das erste Beben auf den Rängen. Als ausgerechnet, wie es dann gern heißt, Götze sechs Minuten nach seiner Einwechslung mit einem Flachschuss aus spitzem Winkel das 3:2 erzielte, hob das Westfalenstadion zum ersten Mal kurz ab. Als es wieder stand –- so ungefähr zehn Minuten nach dem Abpfiff – verdiente sich Götze zwar ein Sonderlob des Trainers für die professionelle Einstellung („fantastische Mentalität“). Eine Rückkehr in die Stammelf stellte Favre dennoch nicht in Aussicht. „In unserem System gibt es nur einen Platz für ihn, da konkurriert er mit Reus
und Kagawa“, sagte der Schweizer Fußballprofessor, „das ist schwer für ihn.“Götze wird sich an Kurzeinsätze gewöhnen müssen oder im Ausland sein Glück versuchen – trotz des Treffers und der Begeisterung seiner Fans.
Die dritte Geschichte erzählt der zweite Einwechselspieler mit einem großen Namen. Nach einer Stunde kam Alcacer ins Spiel. Und er schlug noch schneller ein als Götze. Seine erste Ballberührung war der Ausgleich zum 1:1, das 2:2 erzielte er nach einem schnell ausgeführten Freistoß des ebenfalls eingewechselten Raphael Guerreiro und den Siegtreffer mit der letzten Ballberührung des gesamten Spiels.„Wenn ein Stürmer in 30, 35 Minuten drei Tore macht, dann ist das sensationell“, urteilte Kapitän Marco Reus, „besser geht es wohl nicht.“Im Unterschied zu Götze darf Alcacer künftig von längeren Einsatzzeiten ausgehen. Favre will ihn allerdings behutsam an höhere Belastungen heranführen. „Er hat drei Jahre kein Spiel über 90 Minuten gemacht“, erklärte der Coach, und er variierte seinen Lieblingssatz, nach dem alles ziemlich „schwer ist“: „Es ist nicht leicht.“Probleme wie das, einen Spieler von der Qualität Alcacers heranzuführen, hätten andere gern.
Das führt zur vierten Geschichte. Die handelt von der neuen Mentalität der Dortmunder, denen Rückstände nicht mehr den Glauben ans eigene Spiel rauben wie in der vergangenen Saison. „Wir haben Vertrauen“, betonte Favre. Und die Geschichte handelt von einem Team mit sehr großen fußballerischen Möglichkeiten. Zurzeit schöpft die BVB-Mannschaft ihr Potenzial vor allem im Angriff aus. Nachholbedarf hat sie in der defensiven Organisation, denn Augsburg war nicht das erste Team, das die Bubi-Abwehr der westfälischen Borussia durcheinander brachte. Dan-Axel Zagadou (19), Achraf Hakimi (19), Abdou-Lakhad Diallo (22) und Manuel Akanji (23) müssen noch viel lernen. „Defensiv haben wir zu tun“, sagte Favre, „das gehört auch dazu. Ich habe ja gesagt: Wir brauchen Zeit.“Die komfortable Situation in der Tabelle gibt ihm alle Zeit der Welt. „Immer Pech ist auch kein Zufall.“ „Wenn man unserer Torverhältnis von 4:4 sieht, denkt man, wir parken einen Bus vor dem eigenen Tor.“ „In der ersten Halbzeit haben wir Kraft gesammelt, in der zweiten Halbzeit sind wir dann durchgestartet.“ „Wir sind schon eine geile Truppe.“ „Ich war durchgeschwitzt, hatte Gänsehaut, habe mich zwischendurch geärgert – heute war alles dabei.“
Sebastian Kehl, Leiter der Lizenzspielerabteilung von Borussia Dortmund, nach dem 4:3 in letzter Sekunde gegen den FC Augsburg.
„Das ist der wahre Götze.“
Borussia Dortmunds Ex-Weltmeister Mario Götze mit Verweis auf das ertauschte Trikot seines Bruders Felix, gegen den er am Samstag spielte.
„Meiner Meinung nach heißt ‚sehr gut spielen‘ nicht, dass fast die ganze Mannschaft eine Gelbe Karte hat.“
Borussia Dortmunds Abwehrchef Manuel Akanji auf die Frage nach der starken Leistung von Gegner Augsburg, der am Samstag sieben Gelbe Karten sah.
„Am Schluss würdest du am liebsten in den Kübel kotzen.“
Michael Gregoritsch vom FC Augsburg nach dem 3:4 in der sechsten Minute der Nachspielzeit in Dortmund.