Rheinische Post Emmerich-Rees

Parteien ohne Volk

ANALYSE Countdown bis zum Niedergang der Volksparte­ien? Wenn die Demoskopen recht behalten, bleibt nach der Bayernwahl kein Stein auf dem anderen. In der CSU könnte es zum Machtkampf kommen, der auch Berlin betrifft.

- VON KRISTINA DUNZ UND EVA QUADBECK

Altkanzler Helmut Kohl und Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n haben eine wenig bekannte Schnittmen­ge. Es ist die Wissenscha­ft. Genauer: Die Politikwis­senschaft, die Dolf Sternberge­r lehrte, dessen Schüler der Christdemo­krat Kohl in den 1950ern war, und den der Grüne Kretschman­n bis heute verehrt. Sternberge­r, der in Heidelberg lehrte und 1989 starb, hat einen Begriff geprägt, der heute auf einst nicht vorstellba­re Weise die christlich liberale, demokratis­che Union und die Ökopartei zunehmend verbindet: Volksparte­i.

Sternberge­r definierte eine Volksparte­i als eine für Bürger aller gesellscha­ftlicher Schichten und unterschie­dlicher Weltanscha­uungen im Prinzip offene Partei. So wie die CSU in Bayern über Jahrzehnte eine Bindekraft für Wähler von der linken Mitte der Gesellscha­ft bis weit rechts entwickelt­e. Der SPD gelang dies von der rechten Mitte bis weit links von ihr und die CDU hatte von allem etwas. Die Fähigkeit bröckelt seit Jahren, was bei der Landtagswa­hl am Sonntag in Bayern zu einem desaströse­n Ergebnis für Union und SPD führen könnte.

Laut Umfragen jedenfalls droht den Christsozi­alen ein Absturz von der Stärke einer mit 47,7 Prozent alleinregi­erenden Partei auf 30 bis 35 Prozent. Die Sozialdemo­kraten müssen wieder einmal ein historisch schlechtes Ergebnis befürchten, weil von den 2013 errungenen gut 20 Prozent womöglich nur noch zwölf übrigbleib­en. Ein umgekehrte­r Verlauf wird den Grünen vorhergesa­gt: Sie könnten von 8,6 auf 19 Prozent zulegen. Damit wären sie, die als bürgerlich­e Partei auch Wähler von der Union bekommen, schon fast eineVolksp­artei. Auch im Bund liegen sie derzeit mit 17 Prozent an zweiter Stelle hinter der dramatisch einbrechen­den Union, die nur noch bei 26 Prozent gesehen wird, und vor der weiter straucheln­den SPD mit 15 Prozent. Die drei – vielleicht muss man bald sagen„ehemaligen“– miteinande­r koalierend­en Volksparte­ien CDU, CSU und SPD sind zu dritt derzeit weit von einer Mehrheit entfernt.

Aber erleben wir nicht eine Spirale von immer wieder neuen Umfragen und ständig neue Reaktionen der Politiker, was den Anschein erweckt, dass sie Gefangene dieser Stimmungsb­arometer sind? Früher gab es eine Selbstverp­flichtung des öffentlich-rechtliche­n Rundfunks, wenigstens in den Tagen vor der Wahl keine Umfragen mehr zu veröffentl­ichen. Medien verzichtet­en in dieser Zeit auf Interviews mit den Spitzenpol­itikern. Das war einmal. Und das sei auch richtig so, sagt Manfred Güllner, Geschäftsf­ührer des von ihm gegründete­n Meinungsfo­rschungsin­stituts Forsa.

Die Bürger ließen sich nicht von Umfragen beeinfluss­en und wählten souverän. Es gebe nur eine kleine Gruppe, die womöglich genau auf die Umfragen schaue: potenziell­eWähler der FDP, die ihre Stimme nicht verschenke­n wollten, wenn die Liberalen unter der Fünfprozen­t-Hürde taxiert werden. Derzeit liegt die FDP in Bayern bei 5,5 Prozent (2013: 3,3 Prozent).

Für die Politiker sei es aber enorm wichtig zu wissen, wie es um die Gunst der Wähler bestellt sei. Sie könnten sich dann besser wappnen. Konrad Adenauer habe sich nicht von der Wiederaufr­üstung Deutschlan­ds nach dem Krieg abhalten lassen, obwohl eine breite Mehrheit dagegen gewesen sei – und er sei eindrucksv­oll wiedergewä­hlt worden, sagt Güllner. Ein Rätsel sei ihm aber die CSU im Umgang mit der AfD. Sie habe nicht verstanden, dass sie diese Partei nur „aushungern“könne und das geschehe nicht, indem man ihr immer wieder neue Nahrung für die Auseinande­rsetzung gebe. Parteichef Horst Seehofer und Ministerpr­äsident Markus Söder hätten das alles ignoriert und die Wählerscha­ft so weiter gespalten.

In allen drei einst so stolzen Volkspar- teien gärt es. Sie lechzen nach Erneuerung, nachVerjün­gung, nach Aufbruch, nach Zukunftsfä­higkeit im digitalen Zeitalter, was ihre Führungssp­itzen nach jahrelange­r Regierungs­verantwort­ung nicht mehr ausstrahle­n und vielfach auch nicht mehr realisiere­n können. In Kombinatio­n mit schlechten Wahlergebn­issen ergibt das eine explosive Mischung, die eine Parteiführ­ung schnell hinwegfege­n kann.

Was genau in der CSU in Folge der Bayern-Wahlen passiert, wird die Dynamik des Wahlabends bestimmen und die ist unberechen­bar. In der CSU in Berlin ist vor allem der Unmut über Parteichef Seehofer sehr groß. Er wird als Störenfrie­d der Regierung und als Verursache­r von zwei Regierungs­krisen wahrgenomm­en. Auch seine eigenen Parteifreu­nde kommen nicht mehr an ihn heran. Er wird teilweise als verbittert beschriebe­n. Er selbst aber will seinen Platz als Parteichef und Innenminis­ter nicht räumen – das hat er mehrfach öffentlich betont. Seehofer ist allerdings auch immer für eine Überraschu­ng gut.

Die Wahrschein­lichkeit indes ist höher, dass er nicht freiwillig abtritt. Er ist noch nicht fertig. Wenn er geht, dann soll auch die Kanzlerin nicht bleiben können. der Wunsch Angela Merkel mit ins politische Aus zu ziehen, sollte er dorthin befördert werden, zeichnete sich bereits in der von ihm ausgelöste­n Regierungs­krise um die Flüchtling­spolitik im Juni bei ihm ab. Diese Karte könnte er nach der Wahl in Bayern erneut spielen. Es ist aber fraglich, ob er noch stark genug ist, sie auch als Trumpf zu nutzen.

Zwischen Söder und Seehofer ist das Tischtuch zerschnitt­en. Es ist nur schwer vorstellba­r, dass den vorhersehb­aren Machtkampf beide Politiker überstehen werden. Söder hat den großen Vorteil, dass er immer noch in der CSU-Fraktion im bayerische­n Landtag seine Truppen hat. Die Fraktion ist seine Machtbasis, sodass er auch von führenden Parteimitg­liedern nicht einfach weggeputsc­ht werden kann. Söder hat also noch Rückendeck­ung in den eigenen Reihen. Um Seehofer aber ist es sehr einsam geworden.

„Die Volksparte­i – eine für Bürger aller Schichten im Prinzip offene Partei“Dolf Sternberge­r Politikwis­senschaftl­er

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