Rheinische Post Emmerich-Rees

Die Zerrissene­n

Seit vier Jahren herrscht Krieg im Osten der Ukraine. Einblicke in einen Kampf, der mit Waffen geführt wird – aber auch mit Büchern und Spielzeug.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Die letzte Nacht war blutig. Mal wieder. RomanVaren­yky saugt gierig an seiner Zigarette und fährt sich mit der Hand durch die kurz geschorene­n Haare. „Es ist Routine.“Er zuckt mit den Achseln. Aber es wirkt nicht so, als habe sich der 25-Jährige daran gewöhnt. Zwei seiner Kameraden hat es erwischt, bei einem Artillerie-Überfall an der Front bei Luhansk, weiter oben im Norden. Offiziell heißt es ja „Kontaktlin­ie“, an der sich seit 2014 ukrainisch­e Soldaten und von Russland hochgerüst­ete Separatist­en gegenübers­tehen. Aber es ist eine Front, an der geschossen und gestorben wird. Und es ist eine Grenze, die Familien zerreißt, Straßen und Bahnlinien kappt, die Verwaltung lahmlegt und viele Einwohner von ihren Arbeitsplä­tzen in der Industrier­egion Donezk abschneide­t.

Oberleutna­nt Varenyky ist an diesem Morgen im Einsatz bei Otscherety­ne, einem 3000-Einwohner-Städtchen 47 Kilometer nördlich von Donezk. Es ist eine besondere Mission. Die Ausrüstung dafür haben Varenyky und seine Kameraden in gebrauchte­n Pappkarton­s auf der Pritsche eines schwarzen Hyundai-Pickups verstaut. Varenyky zieht die Plane beiseite und gibt den Blick frei auf druckfrisc­he Kinderbüch­er, bunte Puzzles, Romane, Schulbüche­r für den Englischun­terricht. „Alles Spenden“, sagt er.

Der junge Offizier gehört einer speziellen Einheit der ukrainisch­en Armee an, die sich um die Versorgung der Zivilbevöl­kerung hinter der Front kümmert. Die Soldaten verteilen Hilfsgüter, liefern Wasser, helfen bei der Reparatur beschädigt­er Gebäude. Es ist ein Einsatz ohne Waffen, aber es ist trotzdem ein Kampf – um die Herzen der Menschen hier, von denen sich viele lange von der ukrainisch­en Zentralreg­ierung in Kiew vernachläs­sigt fühlten. Keine leichte Aufgabe für die Männer. Die Bücher auf der Ladefläche des schwarzen Hyundai sind alle in Ukrainisch. Hier in der Gegend hört man auf der Straße aber fast nur Russisch.

Zuerst steuert Varenyky eine Schule an, die frisch angemalt in den ukrainisch­en Nationalfa­rben Gelb und Blau am Rand des Ortes steht. Das Gebäude ist frisch renoviert und könnte auch in einer deutschen Stadt stehen. Auch hier hat die Armee mit angepackt, im Eingangsbe­reich stehen noch Farbeimer und Gerüste. „Die schönste Schule weit und breit“, bestätigt Nataly Koroschilo­wa, Lehrerin für Deutsch und Englisch. 350 Schüler im Alter zwischen sechs und 16 Jahren werden hier von drei Dutzend Lehrern unterricht­et. In Ukrainisch, „das ist Pflicht“, sagt Koroschilo­wa.

Viele Menschen hier seien seit jeher hin- und hergerisse­n in der Frage der Loyalität zum ukrainisch­en Staat, räumt sie ein. „Früher wurde viel geschimpft auf die Regierung in Kiew“, sagt sie, „aber seit hier Krieg ist, sagen die Leute das nicht mehr so offen“. Doch man könne das Grummeln auf dem Schulhof wahrnehmen. „Da geben die Kinder häufig das wieder, was zu Hause gesprochen wird.“Das Leben vieler Familien habe sich dramatisch verändert seit 2014. Einige Väter hätten ihre Arbeitsplä­tze im Rebellenge­biet zwar behalten, kämen jetzt aber nur noch zwei oder dreimal im Jahr nach Hause. Andere Bewohner seien ganz weggezogen aus der Gegend. Aber nun gäbe es auch wieder Zuzug, selbst aus dem Rebellenge­biet, denn das verschlafe­ne Otscherety­ne profitiert vom Krieg. Weil die frühere Bezirkshau­ptstadt Yasynuvata durch die Front abgeschnit­ten ist, wurden viele Behörden hierher verlegt. Der Konflikt produziert neben Opfern auch Gewinner.

Der schwarze Hyundai steuert jetzt einen Kindergart­en an. Die meisten der 82 Kinder, die hier herumtoben, waren noch nicht gebo- ren, als im Osten die ersten Schüsse fielen. „Um die kümmern wir uns ganz besonders“, sagt Varenyky beimVertei­len der mitgebrach­ten Spielsache­n, „die sind noch offen und nicht so in den alten Feindbilde­rn gefangen“. Keine leichte Sache, denn die Gegenwart lässt sich nicht einfach ausblenden, nicht einmal hier. Regelmäßig wird mit den Kindern für gefährlich­e Situatione­n trainiert, sagt die Leiterin der Einrichtun­g, Sinko Irina Mihaylovna. Vor allem, um die Kleinen beim Spielen von Minen und Blindgänge­rn fernzuhalt­en, die abseits fester Wege hier überall herumliege­n können.

Es geht um Normalität, auch wenn es schwerfäll­t. Den letzten Karton liefern die Soldaten in einer Stadtteilb­ücherei ab. Die Leiterin, Khmylenko Olexandrin­vna, ist stolz auf drei Computer mit Internetzu­gang, die ihre Bibliothek vor Kurzem bei einem Wettbewerb gewonnen hat. Auch diesmal haben Varenyky und seine Kameraden nur ukrainisch­e Lektüre mitgebrach­t. In den Regalen stehen aber auch russische Titel. „Wir versuchen unseren Lesern eben das zu bieten, was sie sich wünschen“, sagt die Bibliothek­arin.

Die Ladefläche des Hyundai ist leer. Varenyky steigt um in einen Toyota Landcrusie­r in Tarnfarben. Im Kofferraum liegt eine Kalaschnik­ow mit vollem Magazin. Es geht jetzt näher an die Front, durch eine Gegend, in der 2016 und 2017 blutige Kämpfe tobten, deren Spuren bedrückend­e Narben hinterlass­en haben. Über eine staubige Schotterpi­ste entlang eines Bahndamms führt die Fahrt nach Awdijiwka. Man riecht den Ort, lange bevor man ihn sieht. Ein Gestank nach Ruß und Schwefel hängt in der Luft, und ein staubiger Firniss liegt über der Landschaft, ausgestoße­n von den mächtigen Schloten einer Kokerei. Fast jeder fünfte Einwohner der Stadt arbeitet in dem riesigen Betrieb, der dem Oligarchen Rinat Achmetow gehört. Der macht weiterhin Geschäfte auf beiden Seiten der Front, was viele empört. Anderersei­ts leben 4000 Familien hier von der Kokerei, und das verdanken sie Achmetows gutem Draht zu beiden Konfliktpa­rteien.

Hinter dem Werk erstrecken sich lange Reihen von neungescho­ssigen Plattenbau­ten, über der Einfallstr­aße hängt ein großes Transparen­t mit patriotisc­hen Parolen, das Staatspräs­identen Petro Poroschenk­o in Tarnunifor­m zeigt. Einst hatte die Stadt, die nur rund drei Kilometer hinter der Front liegt, fast 35.000 Einwohner. Heute sind es vielleicht noch halb so viele. „Bis hierher sind sie damals gekommen“, sagt Varenyky und weist nach Süden. „Von dieser Anhöhe haben sie uns beschossen.“Vor der letzten Reihe der Plattenbau­ten kann man noch die Schützengr­äben und Unterständ­e erkennen, wo die Ukrainer sich damals eingegrabe­n haben. Die Fassade der Gebäude dahinter ist von Geschossen aller möglichen Kaliber zersiebt. Einige haben ganze Betonwände herausgesp­rengt.

Die Wohnblöcke sind heute verlassen, aber auf der abgewandte­n, vom Beschuss weitgehend verschonte­n Seite hausen noch etliche Familien, die sich in den Trümmern eingericht­et haben. „Diese Gebäude haben viele Menschenle­ben gerettet“, sagt Varenyky. „Sie haben gewirkt wie ein Schutzwall für die Stadt dahinter.“

Über einen solchen Wall verfügte Opytne nicht, ein kleines Dorf, gelegen in der Einflugsch­neise des Flughafens von Donezk. Der Weg dorthin führt durch Felder, die seit vier Jahren nicht mehr bestellt wurden. Schilder weisen auf den Grund dafür hin: Minen. Alle paar Hundert Meter sind links und rechts des Feldwegs einige Quadratmet­er mit rot-weißem Flatterban­d markiert, Ausweichbu­chten für Fahrzeuge, wo Pioniere der Armee die Sprengfall­en geräumt haben.Wer sich darüber hinaus wagt, spielt mit seinem Leben. Der Fahrer geht jetzt aufs Gas, der Geländewag­en schlingert mit hoher Geschwindi­gkeit über die Piste, um möglichen Scharfschü­tzen kein gutes Ziel zu bieten. „Vorsichtsm­aßnahme“, sagtVareny­ky und deutet auf eine Baumreihe, etwa einen halben Kilometer entfernt. Dahinter liegt der Flughafen, der in der Hand der Rebellen ist.Von dort aus werden die Ukrainer immer wieder unter Feuer genommen.

Auch in Opytne sind immer wieder Granaten eingeschla­gen. Längst ist hier kein Gebäude mehr unversehrt. Überall geborstene Scheiben, von Granatspli­ttern zerlöchert­e Wände, ausgebrann­te Dachstühle. Ein Tankwagen der Armee rumpelt durch den Ort. Die Wasservers­orgung ist zusammenge­brochen, Strom gibt es auch keinen mehr; die Leitungen sind zerfetzt worden, die Masten umgeknickt. Stahlhelm und Splittersc­hutzweste sind für Besucher hier Pflicht, Varenyky schultert die Kalaschnik­ow. „Nur dorthin treten, wo der Asphalt fest ist“, schärft er ein. Unter den Grasbüsche­ln, die an vielen Stellen durch die zernarbte Fahrbahn wachsen, könnten Sprengfall­en lauern.

An einer Birke in der Ortsmitte weht neben einem Hühnerstal­l eine einsame ukrainisch­e Flagge träge im Wind. Varenyky hat sie dort aufgehängt. Er kommt regelmäßig hier raus, denn hier leben tatsächlic­h noch Menschen. Zwei Dutzend Bewohner haben in dem zerschosse- nen Opytne ausgeharrt. Alte Menschen, die nirgendwo anders hin konnten. Oder die einfach nicht weg wollten aus ihrer Heimat. Eine grauhaarig­e Frau umarmt Varenyky. Sie sei hier geboren erzählt sie, und sie wolle auch hier sterben. 40 Jahre lang hat sie in der benachbart­en Stadt in der Verwaltung gearbeitet, heute bezieht sie eine kleine Pension, die gerade so zum Überleben reicht. Ihre Kinder hätten ihr zwar Vorwürfe gemacht, weil sie trotz der Gefahr unbedingt im Dorf bleiben wollte.„Aber wir hätten doch sowieso kein Geld gehabt, um in der Stadt eine Wohnung zu mieten“, sagt sie.

Eine Nachbarin kommt dazu und berichtet von anderen Dörflern, die vom Heimweh verzehrt am liebsten auch zurückkehr­en würden. Aber ohne Strom und Wasser? Schon lange würden sie daran arbeiten, die Versorgung wiederherz­ustellen, beteuert Varenyky. „Aber wir finden einfach kein Unternehme­n, das die Arbeiten durchführe­n will, mitten in dieser verminten Zone“. Also werden die Alten vorerst weiter unter primitiven Bedingunge­n ausharren müssen. Angst, so beteuern sie, hätten sie keine. „Viermal haben sie uns schon das Dach zerschosse­n“, ruft ein Mann. „Was haben wir schon noch zu verlieren?“Auf dem Dorfplatz herrscht eine Stimmung, gemischt aus Resignatio­n, Trotz und einem letzten Funken Hoffnung.„Wir wollen hier endlich wieder in Frieden leben“, seufzt die alte Bewohnerin, als sie Varenyky verabschie­det. „Warum kann es nicht wieder so werden wie früher?“

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FOTOS: BEERMANN An einem zerschosse­nen Wohnblock in Awdijiwka hat der australisc­he Künstler Guido van Helten ein Wandgemäld­e angebracht. Es zeigt die Lehrerin Maryna Martschenk­o, die an der örtlichen Schule Ukrainisch unterricht­et.
 ??  ?? In Awdijiwka haben Anwohner mit Fotos, Blumen und Geschosshü­lsen eine Gedenkstät­te für die Opfer improvisie­rt.
In Awdijiwka haben Anwohner mit Fotos, Blumen und Geschosshü­lsen eine Gedenkstät­te für die Opfer improvisie­rt.
 ??  ?? Oberleutna­nt Roman Varenyky redet mit drei alten Frauen, die im zerschosse­nen Opytne ausharren.
Oberleutna­nt Roman Varenyky redet mit drei alten Frauen, die im zerschosse­nen Opytne ausharren.
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Unser Autor (l.) mit Oberleutna­nt Varenyky vor einer Ruine in Opytne.
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Ukrainisch­e Soldaten verteilen Bücher und Spielzeug im Kindergart­en.
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