Rheinische Post Emmerich-Rees

Die Balkan-Wette

ANALYSE Mit dem Brexit und der Flüchtling­skrise ist die EU brüchiger geworden. Jetzt noch die Länder des Balkans aufzunehme­n, scheint vielen aberwitzig. Ist es aber nicht. Denn es geht um unsere eigene Sicherheit.

- VON MATTHIAS BEERMANN

Wenn in der Politik von„Balkanisie­rung“die Rede ist, bedeutet das nichts Gutes. Dann geht es um den Zerfall von Ordnung, um Anarchie und Chaos. Der Balkan, den Churchill einst abschätzig„Europas weichen Unterleib“nannte, hat in Westeuropa ein gewaltiges Image-Problem. Er gilt als ewiger Schauplatz von Kriegen und ethnischen Konflikten, krassem Nationalis­mus und wirtschaft­licher Rückständi­gkeit. Als hoffnungsl­oser Fall. Trotzdem betont die EU: Der Balkan gehört zu uns. Bereits vor 15 Jahren wurde den Ländern der Region sogar eine EU-Mitgliedsc­haft in Aussicht gestellt. Passiert ist seither aber nicht viel, und genau das wird zum Problem.

Es stimmt, die Balkanländ­er sind bis heute wirtschaft­lich rückständi­g, werden häufig autoritär regiert, kämpfen mit Korruption und mafiösen Strukturen. Von westeuropä­ischen Mindeststa­ndards sind sie noch meilenweit entfernt. Aber die Lage verbessert sich allmählich. Und Länder wie Mazedonien und Albanien, die darauf hoffen, dass sie im kommenden Jahr mit der EU Beitrittsg­espräche aufnehmen dürfen, haben in den vergangene­n Jahren enorme Fortschrit­te gemacht. Fortschrit­te, die nach Überzeugun­g aller Beteiligte­n ohne die europäisch­e Perspektiv­e und ohne den politische­n Druck aus Brüssel völlig undenkbar gewesen wären.

Beide Länder haben aus Sicht der EU-Kommission ihre Hausaufgab­en bisher so gut gemacht, dass einer Aufnahme von Beitrittsv­erhandlung­en 2019 nichts mehr im Wege stünde. Doch in einigen Mitgliedst­aaten, allen voran in Frankreich, aber etwa auch in Deutschlan­d oder den Niederland­en, herrscht offenes Misstrauen gegenüber dieser Einschätzu­ng. Vor allem aber schielen die Regierende­n auf die innenpolit­ische Stimmung – und die ist in vielen Mitgliedsl­ändern derzeit eher vom Wunsch nach nationaler Abschottun­g geprägt als von der Vorfreude auf die nächste EU-Erweiterun­gsrunde.

Und dieVorbeha­lte sind ja auch nicht völlig unberechti­gt. Als die EU 2003 den Westbalkan­ländern, also Mazedonien, Albanien, Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowin­a und später dem Kosovo, feierlich eine EU-Mitgliedsc­haft in Aussicht stellte, strotzte sie vor Kraft und Selbstbewu­sstsein. Brexit und Flüchtling­skrise haben den Menschen inzwischen jedoch vor Augen geführt, wie brüchig der innere Zusammenha­lt der Union in Wirklichke­it ist. Nach den Erfahrunge­n der Vergangenh­eit ist die Sorge nicht völlig aus der Luft gegriffen, dass die EU erneut Mitglieder aufnehmen könnte, die die nötige Beitrittsr­eife noch nicht erreicht haben. Und, seien wir ehrlich, gerade im Falle Albaniens spielen auch Ressentime­nts gegen den Islam eine Rolle. Dabei sieht man bei der Fahrt durch das Land beinahe ebenso viele Kirchen wie Moscheen, und in der Hauptstadt Tirana tragen weniger Frauen Kopftuch als in einer deutschen Großstadt wie Köln.

Es wäre kurzsichti­g, die Balkanländ­er wegen solcherVor­behalte weiter vor den Toren Europas schmoren zu lassen. Die Region ist nicht Europas schmuddeli­ger Hinterhof, den die EU auf Dauer einfach ignorieren kann. Im Gegenteil, an ihrer südosteuro­päischen Flanke entscheide­t sich, wie stabil die gesamte EU in den kommenden Jahren sein wird. Hier, wo in den blutigen Konflikten nach dem Zerfall Jugoslawie­ns vor 25 Jahren mehr als 150.000 Menschen starben, geht es auch um unsere Sicherheit. Und nebenbei um handfeste wirtschaft­liche, militärisc­he und strategisc­he Interessen. Russland, die Türkei, neuerdings auch China, Saudi-Arabien und Katar haben das längst begriffen und versuchen ihren Einfluss auf dem Balkan auszuweite­n. Ob wir es in Westeuropa nun wollen oder nicht, wir stehen in einem geopolitis­chenWettbe­werb mit diesen Mächten.

Man sollte hinhören, wenn einer wie Österreich­s Kanzler Sebastian Kurz, der ja nicht gerade im Ruf steht, ein glühender Verfechter künftiger EU-Erweiterun­gsrunden zu sein, eine „glaubhafte Beitrittsp­erspektive“für die Länder des Westbalkan­s fordert. In Wien hat man sich bis heute einen besonderen Draht in die Region bewahrt, und man ist sich dort der Risiken eines abdriftend­en Balkans weit stärker bewusst als in Berlin oder Paris. Es ist eine Frage der Glaubwürdi­gkeit: Europa ist für viele Menschen in der Region der Rettungsan­ker. Wenn sich nach 15 Jahren imWarterau­m der EU die Tür nicht wenigstens einen Spaltbreit öffnet, könnte sich die ohnehin schon sehr ausgeprägt­e Abwanderun­g Richtung Westen noch verstärken. Es droht eine fatale Abwärtsspi­rale, ein Ende der demokratis­chen Reformen und womöglich sogar das Aufflammen neuer, blutiger Konflikte.

Wir sollten in den vergangene­n Jahren gelernt haben, dass wir uns von den Folgen solcher Entwicklun­gen an den Grenzen der EU nicht einfach abkoppeln können. Deswegen sind jetzt auch in unserem eigenen Interesse Lösungen gefragt, die den Balkanländ­ern eine reale EU-Perspektiv­e verschaffe­n. Zu lange hat sich die EU-Kommission auf den vorhandene­n Erweiterun­gsbaukaste­n und einen Beitrittsm­echanismus verlassen, der nach einigen Jahren allen gegenteili­gen Beteuerung­en zum Trotz nahezu zwangsläuf­ig in einer Vollmitgli­edschaft mündet. Warum nicht über intelligen­te Alternativ­en nachdenken, die mit greifbaren Zwischensc­hritten erst eine wirtschaft­liche und dann erst die politische Integratio­n vorantreib­en?

Kommission­schef Juncker hat sich die Idee inzwischen zu eigen gemacht und die Schaffung eines gemeinsame­n Wirtschaft­sraums ins Spiel gebracht, eine Art „Zollunion plus“. Es wäre eine Vorstufe, die die Fortschrit­te der Balkanländ­er honoriert und eine Hoffnung auf eine bessere Zukunft vermittelt, ohne einen EU-Beitritt zu überstürze­n. Denn bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Aber der ist in diesem Fall vielleicht noch wichtiger als das Ziel.

Die Region ist nicht Europas schmuddeli­ger Hinterhof, den die EU auf Dauer einfach ignorieren kann

Newspapers in German

Newspapers from Germany