Unterwegs mit dem Mesner
Gästeführer Heinz Wellmann lässt die Reeser Kirchengeschichte aufleben.
Die größte Überraschung hob sich der Mesner fürs Finale auf: Wer wollte, durfte den Ostturm der katholischen Pfarrkirche St. Mariä Himmelfahrt erklimmen und die sechs Kirchenglocken aus nächster Nähe betrachten. Waren die bronzenen Instrumente wenige Wochen zuvor noch das Thema eines Vortrags von Ressa-Mitglied Heinz Belting, so ermöglichte es der Reeser Geschichtsverein nun seinen Mitgliedern und Gästen, die imposanten Glocken mit eigenen Augen und Händen zu erfahren. Zuvor hatte der Ressa-Vorsitzende HeinzWellmann in seiner Rolle als Mesner die Zuhörer durch die katholische und evangelische Kirche in der Reeser Innenstadt geführt.
Die evangelische Kirche am Markt wurde 1623 bis 1624 als erste ihrer Art am rechten Niederrhein erbaut. Zuvor konnte die reformierte Gemeinde in Rees ihre Gottesdienste nur heimlich und in Privathäusern der Gläubigen feiern. Erst als die Holländer Rees besetzten, entstand unter deren militärischem Schutz eine reformierte Kirche im katholischen Rees.
Die kleine Kirche wurde „in den Höfen“, also umgeben von Wohnhäusern gebaut, weil sie nicht direkt an der Straße stehen durfte. Wer zum Gottesdienst wollte, musste von der Hohen Rheinstraße durch einen schmalen Gang zur Kirche gehen. Erst als die Gemeinde später ein Haus am Markt kaufte und abriss, war ein unmittelbarer Zugang möglich.
„Als 1672 die katholischen Franzosen unter Ludwig XIV. Rees besetzten, hatten die Protestanten große Mühe, den Fortbestand ihrer Kirche zu sichern“, berichtete Mesner HeinzWellmann. 1817 vereinigten sich die lutherische und die re- formierte Kirchengemeinde zur unierten Kirchengemeinde Rees und nutzten die Kirche am Markt gemeinsam. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Kirche stark zerstört. Der Wiederaufbau begann 1949, fünf Jahre später hatte die Gemeinde ihre neue Gottesdienststätte. Die einzige Glocke der evangelischen Kirche stammt von 1646 und trägt die Aufschrift: „Door dat Vier bin ick geflooten, Peter van Trier heft my ge- gooten“(„Durch das Feuer bin ich geflossen, Peter van Trier hat mich gegossen“). Somit ist sie älter als alle Glocken der katholischen Kirche.
Um die Geschichte der katholischen Kirche zu erzählen, musste Wellmann weiter ausholen. Schließlich lässt sich ein erster Holzbau bis in die fränkische Zeit um 700 nach Christus zurückverfolgen. Etwa um 1012 wurde mit dem Bau einer steinernen Kirche begonnen, die von der heiligen Irmgard von Aspel gestiftet wurde. Das Gotteshaus wurde im Jahr 1040 fertiggestellt und in den folgenden Jahrhunderten, bedingt durch Feuerschäden und sich ändernde Geschmäcker, mehrfach um- und ausgebaut.
Nach dem Einsturz der baufällig gewordenen fünfschiffigen gotischen Stiftskirche im Jahr 1817 wurde bis 1828 eine klassizistische Pfarrkirche nach Plänen des Bauinspektors Carl Gottlieb Herrmann errichtet. Sie glich architektonisch der heutigen Kirche und war damals ihrer Zeit voraus:„Der Bischof weigerte sich, nach Rees zu kommen und diesen ,heidnischen Tempel‘ einzuweihen“, erzählte Heinz Wellmann. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erhielt die Kirche dann doch die hohen und spitzen Turmdächer, wie sie sich viele Gemeindemitglieder schon früher gewünscht hatten.
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Kirche bis auf die Umfassungsmauern zerstört. Der Wiederaufbau erfolgte von 1956 bis 1970 im klassizistischen Stil. Der Künstler Ulrich Henn schuf mit seinem Bronzeportal, das in 28 Motiven das Leben, das Leiden und die Auferstehung Jesu Christi schildert, einen markanten Schlusspunkt des Wiederaufbaus.Im Innern der Kirche ging Heinz Wellmann ausführlich auf die wenigen historischen Kirchenschätze ein, die den Krieg überlebten. Allen voran die Gottesmutter mit Kind, die im 14. Jahrhundert in einer Kölner Werkstatt geschnitzt wurde, und die um 1530 in Kalkar geschaffene Holzskulptur des heiligen Georg, der einen Drachen tötet. Der Mesner verriet auch Details über die in Kevelaer gefertigte Orgel, deren circa 3000 Pfeifen in Form der zweitürmigen Kirchenfassade angeordnet sind.
Vorbei am Glasschrein mit einer Nachbildung des Kevelaerer Gnadenbildes der „Trösterin der Betrübten“und dem Taufstein mit Kupferdeckel (aufgestellt am tiefsten Punkt der Kirche) ging es am Ende der Tour in den Ostturm und über viele Treppenstufen bis zu den Bronzeglocken, die Maria, Michael, Pius, Irmgardis, Cyriakus und Georg gewidmet sind.