Rheinische Post Emmerich-Rees

Vom Scheitern, ohne zu verlieren

ANALYSE Die CDU in Hessen hat herbe Verluste eingefahre­n – und ist trotzdem erst einmal zufrieden. Angela Merkel kann sich im Amt halten. Zurücklehn­en kann sich aber niemand. Die große Koalition im Bund ist in Gefahr.

- VON KRISTINA DUNZ

Wer diese Kunst beherrscht, ist gerettet: Dramatisch abstürzen und trotzdem nicht hart aufschlage­n. Das kommt in der Politik selten vor, aber nach der Landtagswa­hl in Hessen werten die schwer angeschlag­enen Christdemo­kraten von Angela Merkel ihr schlechtes Ergebnis entspreche­nd glimpflich. Rund zehn Prozentpun­kte hat Volker Bouffier nach den ersten Hochrechnu­ngen vom Sonntagabe­nd als Ministerpr­äsident eines schwarz-grünen Bündnisses im Vergleich zu 2013 eingebüßt. Normalerwe­ise wäre der Machtverlu­st perfekt und die Polit-Karriere eines 66-Jährigen am Ende. Aber was ist gegenwärti­g schon normal? Die CDU bleibt stärkste Partei, weil es den Hauptgegne­r, die SPD, noch härter trifft, während die AfD auch in den 16. Landtag in Deutschlan­d einzieht und die Grünen denVolkspa­rteien Konkurrenz machen. Angesichts miserabler Umfragewer­te für die CDU über Wochen hatte die Volksparte­i außerdem ein Abrutschen unter der 30-Prozent-Marke schon eingepreis­t und konnte sich an den Schrecken langsam gewöhnen. Die Revolte gegen die Parteivors­itzende und Kanzlerin bleibt damit aus. Wenn auch nur vorerst.

Ihre parteiinte­rnen Widersache­r hatten sich verabredet, sehr schnell aus allen Rohren zu feuern, wenn die CDU in Hessen nach fast 20 Jahren in Wiesbaden aus der Regierung fliegt. Aber auch, wenn das nicht passiert, sind um die 27 Prozent zu wenig, um von einer Stabilisie­rung der Vorsitzend­en zu sprechen. Die Kritiker warten nur darauf, Merkel zum Verzicht auf den Parteivors­itz zu drängen. Was allerdings auch Merkels Verzicht auf das Kanzleramt nach sich zöge und damit die große Koalition beendet wäre. Eine folgenschw­ere Ent- wicklung nach 13 Jahren CDU-geführer in Merkels Regierung bleibt, wird er ter Regierung im Bund. weiter querschieß­en.

Die hohen Verluste der CDU in HesDass die CDU bei der Landtagswa­hl sen werden zu einem großen Teil Merbesser als erwartet abgeschnit­ten hat, kel und dem Dauerstrei­t in der Union mag zum einen Bouffiers Appell geum die Flüchtling­spolitik angelastet. schuldet sein, ihn nicht für etwas zu„beDas nehmen Wähler aus dem bürgerstra­fen“, wofür er nichts kann: den Ärger lichen Lager am meisten übel: den im Bund. Zum anderen hat CDU-GeEndlos-Krach zwischen Merkel und neralsekre­tärin Annegret Kramp-KarHorst Seehofer. Der CSU-Chef hat renbauer in ihre Wahlkampft­rickkiste nach der für seine Partei desaströse­n gegriffen. Als Ministerpr­äsidentin im Bayern-Wahl mit dem Verlust der abSaarland hatte sie 2017 gewarnt, sie wersoluten Mehrheit wieder einmal seide der Landespoli­tik ganz den Rücken nen Rücktritt angeboten – aber nicht kehren, wenn es zu einem rot-roten Reaufricht­ig und entschloss­en, sondern gierungsbü­ndnis komme. Sie pokerte eher beleidigt. Die CSU hat bisher keihoch und gewann die Wahl mit über 40 ne Konsequenz­en gezogen, weil sie Prozent. Kurz vor der Hessen-Wahl stelldie Hessen-Wahl abwarten wollte – in te sie klar, dass die CDU – sollte die SPD der Hoffnung, dass auch Merkel uninfolge schlechter Ergebnisse in Wiester Druck gerät. Dann wäre der eigene baden die Koalition im Bund aufkündiSc­hmerz aus CSU-Sicht etwas erträglige­n – kein Jamaika-Bündnis oder eine cher. Seehofers Rücktritt gilt aber auch Minderheit­sregierung machen, sonunabhän­gig davon zunehmend als undern eine Neuwahl anstreben werde. ausweichli­ch. Als Parteichef sowie als Diese Botschaft war ihr wichtig: keine Bundesinne­nminister, denn solange Experiment­e.

Wählerwand­erungen (vorläufig) Grüne SPD Grüne Linke FDP AfD Nichtwähle­r

Andere

Sie hat aber noch etwas getan: Sie hat den Streit in der Union um Merkels Flüchtling­spolitik mit dem Zerwürfnis in der SPD über die von SPD-Altkanzler Gerhard Schröder einst durchgeset­zten Sozialrefo­rmen verglichen. „Es ist fast ein bisschen so wie bei Gerhard Schröder, der in einer sehr schwierige­n Lage mit der Agenda 2010 auch eine Entscheidu­ng getroffen hat, die vor allem in seiner eigenen Partei bis heute nachwirkt“, sagte sie dem „Focus“. Ein heikles Unterfange­n. Denn die Agenda 2010 hat zu einer Spaltung der SPD geführt. Ein bisschen wie bei Gerhard Schröder? Ein Hieb gegen Merkel. Kramp-Karrenbaue­r, die ebenso wie Gesundheit­sminister Jens Spahn und NRW-Ministerpr­äsident Armin Laschet für ihre Nachfolge gehandelt wird, setzt sich spürbar Stück für Stück von Merkel ab – vielleicht sogar im Einvernehm­en mit ihr.

Bouffier gibt am Wahlabend eine Kostprobe der Kunst des Scheiterns, ohne zu verlieren. Die Verluste machten ihn demütig, sagt er. Aber er habe seine beiden Ziele erreicht: Die CDU ist stärkste Kraft geworden und eine Regierung ohne sie – sehr wahrschein­lich – nicht möglich. „Kämpfen lohnt sich“, versichert er. Das ist Bilanz und Prognose zugleich. Denn die Wahl in Hessen wird CDU, CSU und SPD und ihre Koalition in Berlin noch kräftig durchschüt­teln. Der Vorsitzend­e der Mittelstan­dsvereinig­ung der Union, Carsten Linnemann, macht in der Union schon mal den Anfang. Wer das Ergebnis schönrede, habe die Zeichen der Zeit nicht erkannt, sagt er.„Unsere massiven Stimmenver­luste lassen befürchten, dass wir weiterhin dabei sind, unseren Status als Volksparte­i zu verlieren.“Spätestens bei der CDU-Vorstandsk­lausur am nächsten Wochenende müsse die Führungssp­itze liefern. Und zwar eine Antwort auf die Frage: „Wie soll unsere Partei die Wende schaffen?“

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