Pfaffs Hof
Es hatte zwar nicht direkt was mit dem Kinderkriegen zu tun, aber doch mit dem Teil davon, für den Barbara und ich – wie für Lippenstift –„noch viel zu jung“waren.
Wir hatten beide zu Hause nichts erzählt, deshalb hielt ich auch jetzt meinen Mund.
Auf der Fahrt nach Köln hatte ich Zahnschmerzen.
Eine der Plomben an meinen Schneidezähnen war locker, und ich wusste, wenn ich nur einmal daran saugte, würde sie rausbröckeln. Abbeißen und richtig kauen durfte ich nicht mehr.
Diesmal fuhr die neue Tante Maaßen mit. „Damit mein Schatz auf der langen Rückfahrt nicht so alleine ist.“
Sie quasselte die ganze Zeit und zupfte an ihrem neuen Kostüm herum, schwarzer Boucléstoff mit einem Nerzkrägelchen, das „ein Vermögen“gekostet hatte.
Ich hörte kaum hin, mummelte mich in meine Ecke und versuchte, nicht an meine Zahnschmerzen zu denken, sondern an etwas Schönes. Aber das war nicht so leicht. Gestern waren wir in der Buchhandlung gewesen, die auf der Schulliste gestanden hatte, um meine neuen Schulsachen zu kaufen.
Der Laden war dunkel und klein. Ein bisschen hatte es nach Büchern gerochen und neuem Papier. Aber am meisten roch es nach Menschen, die unbedingt etwas wollten und viel zu nah aneinanderstanden.
Lauter Mütter, die Listen in den Händen hielten, und dazwischen die Schulkinder.
Wir hatten Dirk mit, der irgendwann quengelig wurde, weil es ihm zu warm war und weil er nichts se- hen konnte. Überall nur Beine.
Ich hob ihn hoch und setzte ihn mir auf die Hüfte. Er hörte auf zu heulen, guckte aber immer noch gnatzig. Außerdem war er mittlerweile ziemlich schwer. Mutter nahm ihn mir ab. Und dann waren wir endlich dran. Mutter mit Dirk auf dem Arm, der in ihren Haaren wuscheln wollte, überreichte der Verkäuferin die Liste. DieVerkäuferin nickte wie ein Automat und fing an herumzulaufen – nach rechts für Schutzumschläge, in den Keller für die Bücher, nach links für Hefte und Zeichenblock – und stapelte alles auf dem kleinen Stückchen Tresen, das für uns war.
In dem Eckchen roch es jetzt richtig nach neuen Büchern, und auf einmal freute ich mich. Es würde so viel Neues zu lesen geben.
„So, das war’s, glaube ich.“Die Verkäuferin fuhr mit dem Finger noch einmal die Liste entlang und fing dann an, alles in die große, grüne Registrierkasse einzutippen. Das dauerte lange.
Der Atlas, jedes Buch, die Umschläge, die Hefte, der Farbkasten – raatsch – raatsch – pling.
„Das macht dann 214 Mark und 60, bitte.“
Mutter hatte Dirk einfach losgelassen.
Und wenn die Mutter neben ihr nicht so schnell zugepackt hätte, wäre mein kleiner Bruder auf den Boden geknallt.
Ich hatte einfach nur weg sein wollen in dem Aufruhr.
Und so fühlte ich mich immer noch.
Onkel Maaßen hatte recht: Wir konnten uns das Gymnasium nicht leisten!
Wie konnte ich Mutter das antun? Und Dirk?
„Heulst du?“, flüsterte Barbara mir zu.
„Nein, ich hab bloß Zahnweh.“
Wir kamen rechtzeitig zum Kaffee in Köln an.
Liesel hatte einen Hefezopf gebacken, der um gefärbte Eier herumgeflochten war – „Ist ja bald Ostern“–, und im Esszimmer gedeckt, wahrscheinlich weil wir mit der neuen Tante Maaßen nicht „unter uns“waren.
Diesmal stand anderes Geschirr auf dem Tisch, modernes, eckig, weiß mit blassroten Streifen. „Schick, oder?“
Liesel schob mich vor sich her in die Küche, um den Kaffee zu holen.
„Das gleiche schenke ich deiner Mutter zum Geburtstag. Natürlich nur für sechs Personen – mehr braucht ihr ja wohl nie.“Sie kniff mir ein Auge. „Aber verrate bloß nichts!“
Dann kniff sie uns beiden ein Auge, Barbara und mir. Sie wollte vor der neuen Tante Maaßen wohl so tun, als wäre sie unsere beste Freundin. „Mädels, jetzt habe ich doch tatsächlich vergessen, Büchsenmilch zu kaufen. Na, kein Problem, ihr kennt euch ja aus.“
Unser Schlüsselbund hing schon am Brettchen neben derWohnungstür, und wir flitzten los zu dem Laden, der „Supermarkt“hieß. Und freuten uns den ganzen Weg über Tante Maaßens verdattertes Gesicht. Wir kannten uns hier aus! In der Großstadt!
Es war alles so wie in unseren letzten Ferien, nur ohne Sommerfrische – dafür war es noch zu kalt.
Wir klebten Rabattmarken ein, gingen einkaufen. Tippten Briefe an unsere Eltern auf der Schreibmaschine, steckten sie in Umschlä- ge und brachten sie zum Postamt.
Durften einmal im rosa Badezimmer baden, mit rosa Badesalz. Das roch gut, kratzte aber am Po.
Barbara las Liesels Modezeitschriften, und ich durfte, weil Onkel Karl-Dieter mal wieder auf Akquise war, in seinen Lederbüchern blättern. Ich verstand kein Wort und ärgerte mich, dass ich kein eigenes Buch mitgebracht hatte.
Zum Sonntagsfrühstück machte uns Liesel einen „Strammen Max“, an dem ich lange herumkaute. Wegen meiner Zähne, aber auch weil ich weiche Spiegeleier zum Würgen fand.
Liesel war aufgekratzt.„Heute machen wir einen Ausflug mit einem Freund der Familie, Mädels. Macht euch mal richtig fein.“Darauf waren wir vorbereitet. Onkel Maaßen hatte uns beiden Steghosen genäht und Kasacks dazu, die Mutter bestickte und„Bulgarenblusen“nannte.
Wir hatten beide noch nie lange Hosen gehabt und fanden uns todschick.
Liesel band sich ein buntes Kopftuch um, das sie vorn übereinanderschlug und im Nacken verknotete. Wie Audrey Hepburn, die ich neulich im Fernsehen gesehen hatte.
Und sie setzte sich eine Sonnenbrille auf.
Dann mussten wir lange laufen. Die Hauptstraße runter, durch eine schmutzige Unterführung, in der es nach Hundekacke stank, bis wir zu einer Einfahrt kamen, in der ein feuerroter Sportwagen stand.