Rheinische Post Emmerich-Rees

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Es hatte zwar nicht direkt was mit dem Kinderkrie­gen zu tun, aber doch mit dem Teil davon, für den Barbara und ich – wie für Lippenstif­t –„noch viel zu jung“waren.

Wir hatten beide zu Hause nichts erzählt, deshalb hielt ich auch jetzt meinen Mund.

Auf der Fahrt nach Köln hatte ich Zahnschmer­zen.

Eine der Plomben an meinen Schneidezä­hnen war locker, und ich wusste, wenn ich nur einmal daran saugte, würde sie rausbröcke­ln. Abbeißen und richtig kauen durfte ich nicht mehr.

Diesmal fuhr die neue Tante Maaßen mit. „Damit mein Schatz auf der langen Rückfahrt nicht so alleine ist.“

Sie quasselte die ganze Zeit und zupfte an ihrem neuen Kostüm herum, schwarzer Boucléstof­f mit einem Nerzkrägel­chen, das „ein Vermögen“gekostet hatte.

Ich hörte kaum hin, mummelte mich in meine Ecke und versuchte, nicht an meine Zahnschmer­zen zu denken, sondern an etwas Schönes. Aber das war nicht so leicht. Gestern waren wir in der Buchhandlu­ng gewesen, die auf der Schulliste gestanden hatte, um meine neuen Schulsache­n zu kaufen.

Der Laden war dunkel und klein. Ein bisschen hatte es nach Büchern gerochen und neuem Papier. Aber am meisten roch es nach Menschen, die unbedingt etwas wollten und viel zu nah aneinander­standen.

Lauter Mütter, die Listen in den Händen hielten, und dazwischen die Schulkinde­r.

Wir hatten Dirk mit, der irgendwann quengelig wurde, weil es ihm zu warm war und weil er nichts se- hen konnte. Überall nur Beine.

Ich hob ihn hoch und setzte ihn mir auf die Hüfte. Er hörte auf zu heulen, guckte aber immer noch gnatzig. Außerdem war er mittlerwei­le ziemlich schwer. Mutter nahm ihn mir ab. Und dann waren wir endlich dran. Mutter mit Dirk auf dem Arm, der in ihren Haaren wuscheln wollte, überreicht­e der Verkäuferi­n die Liste. DieVerkäuf­erin nickte wie ein Automat und fing an herumzulau­fen – nach rechts für Schutzumsc­hläge, in den Keller für die Bücher, nach links für Hefte und Zeichenblo­ck – und stapelte alles auf dem kleinen Stückchen Tresen, das für uns war.

In dem Eckchen roch es jetzt richtig nach neuen Büchern, und auf einmal freute ich mich. Es würde so viel Neues zu lesen geben.

„So, das war’s, glaube ich.“Die Verkäuferi­n fuhr mit dem Finger noch einmal die Liste entlang und fing dann an, alles in die große, grüne Registrier­kasse einzutippe­n. Das dauerte lange.

Der Atlas, jedes Buch, die Umschläge, die Hefte, der Farbkasten – raatsch – raatsch – pling.

„Das macht dann 214 Mark und 60, bitte.“

Mutter hatte Dirk einfach losgelasse­n.

Und wenn die Mutter neben ihr nicht so schnell zugepackt hätte, wäre mein kleiner Bruder auf den Boden geknallt.

Ich hatte einfach nur weg sein wollen in dem Aufruhr.

Und so fühlte ich mich immer noch.

Onkel Maaßen hatte recht: Wir konnten uns das Gymnasium nicht leisten!

Wie konnte ich Mutter das antun? Und Dirk?

„Heulst du?“, flüsterte Barbara mir zu.

„Nein, ich hab bloß Zahnweh.“

Wir kamen rechtzeiti­g zum Kaffee in Köln an.

Liesel hatte einen Hefezopf gebacken, der um gefärbte Eier herumgeflo­chten war – „Ist ja bald Ostern“–, und im Esszimmer gedeckt, wahrschein­lich weil wir mit der neuen Tante Maaßen nicht „unter uns“waren.

Diesmal stand anderes Geschirr auf dem Tisch, modernes, eckig, weiß mit blassroten Streifen. „Schick, oder?“

Liesel schob mich vor sich her in die Küche, um den Kaffee zu holen.

„Das gleiche schenke ich deiner Mutter zum Geburtstag. Natürlich nur für sechs Personen – mehr braucht ihr ja wohl nie.“Sie kniff mir ein Auge. „Aber verrate bloß nichts!“

Dann kniff sie uns beiden ein Auge, Barbara und mir. Sie wollte vor der neuen Tante Maaßen wohl so tun, als wäre sie unsere beste Freundin. „Mädels, jetzt habe ich doch tatsächlic­h vergessen, Büchsenmil­ch zu kaufen. Na, kein Problem, ihr kennt euch ja aus.“

Unser Schlüsselb­und hing schon am Brettchen neben derWohnung­stür, und wir flitzten los zu dem Laden, der „Supermarkt“hieß. Und freuten uns den ganzen Weg über Tante Maaßens verdattert­es Gesicht. Wir kannten uns hier aus! In der Großstadt!

Es war alles so wie in unseren letzten Ferien, nur ohne Sommerfris­che – dafür war es noch zu kalt.

Wir klebten Rabattmark­en ein, gingen einkaufen. Tippten Briefe an unsere Eltern auf der Schreibmas­chine, steckten sie in Umschlä- ge und brachten sie zum Postamt.

Durften einmal im rosa Badezimmer baden, mit rosa Badesalz. Das roch gut, kratzte aber am Po.

Barbara las Liesels Modezeitsc­hriften, und ich durfte, weil Onkel Karl-Dieter mal wieder auf Akquise war, in seinen Lederbüche­rn blättern. Ich verstand kein Wort und ärgerte mich, dass ich kein eigenes Buch mitgebrach­t hatte.

Zum Sonntagsfr­ühstück machte uns Liesel einen „Strammen Max“, an dem ich lange herumkaute. Wegen meiner Zähne, aber auch weil ich weiche Spiegeleie­r zum Würgen fand.

Liesel war aufgekratz­t.„Heute machen wir einen Ausflug mit einem Freund der Familie, Mädels. Macht euch mal richtig fein.“Darauf waren wir vorbereite­t. Onkel Maaßen hatte uns beiden Steghosen genäht und Kasacks dazu, die Mutter bestickte und„Bulgarenbl­usen“nannte.

Wir hatten beide noch nie lange Hosen gehabt und fanden uns todschick.

Liesel band sich ein buntes Kopftuch um, das sie vorn übereinand­erschlug und im Nacken verknotete. Wie Audrey Hepburn, die ich neulich im Fernsehen gesehen hatte.

Und sie setzte sich eine Sonnenbril­le auf.

Dann mussten wir lange laufen. Die Hauptstraß­e runter, durch eine schmutzige Unterführu­ng, in der es nach Hundekacke stank, bis wir zu einer Einfahrt kamen, in der ein feuerroter Sportwagen stand.

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