Rheinische Post Emmerich-Rees

Was wichtig ist

ANALYSE Worüber sprechen die Leute? Was berichten die Medien? Und welche Themen werden sträf lich vergessen? Jeder Einzelne muss mit seiner Aufmerksam­keit haushalten. Das wird immer schwierige­r.

- VON DOROTHEE KRINGS

Zerrissenh­eit gehört zum Lebensgefü­hl des modernen Menschen. Womöglich ist das auch so, weil im Fluss der Informatio­nen oft so schwer zu entscheide­n ist, was wirklich zählt. Da wird nun etwa in der deutschen Öffentlich­keit mit Inbrunst diskutiert, welche Szenarien sich aus dem angekündig­ten Rückzug von Angela Merkel ergeben. Womöglich wäre es aber dringliche­r, über Altersarmu­t, Elektromob­ilität oder die Digitalisi­erung in der Schule zu sprechen. Auch auf internatio­naler Ebene ist diese fragwürdig­e Verteilung von Aufmerksam­keit zu beobachten. Etwa als im vergangene­n Jahr der Monsun in Südasien ganze Regionen verwüstete. Die 41 Millionen Betroffene­n fanden jedoch weit weniger Beachtung, als kurz darauf das Schuhwerk von US-Präsidente­ngattin Melania Trump. Die war nämlich auf sehr hohen, sehr teuren Pumps in den Helikopter gestiegen, als Hurrikan Harvey über Texas wütete.

Aufmerksam­keit ist ein knappes Gut – und damit zu haushalten eine Herausford­erung für jeden Einzelnen in der Informatio­nsgesellsc­haft. Jeden Tag gibt es weltweit viele Ereignisse, die von Bedeutung sein könnten. Hinzu kommen langfristi­ge Entwicklun­gen, deren Auswirkung­en für alle relevant sind. Doch sind meist eben nicht Klimawande­l, Fluchtursa­chen in Afrika oder Pflegenots­tand in Deutschlan­d die beherrsche­nden Themen, sondern der persönlich­e Streit zwischen Seehofer und Söder. Oder neue Details zum Tod des Journalist­en Jamal Khashoggi, der im saudischen Konsulat in der Türkei ermordet wurde. Mit fasziniert­em Schauder stürzt sich die Weltöffent­lichkeit auf das schrecklic­he Schicksal dieses Menschen. Welche Rolle Saudi-Arabien aktuell im Krieg im Jemen spielt, interessie­rt dagegen kaum.

Schon in den 1960er Jahren haben sich ein paar Friedensfo­rscher Gedanken darüber gemacht, was wahrgenomm­en wird. Das Team um Johan Galtung und Mari Ruge wollten wissen, warum so wenig Menschen ihre Angst vor einem Atomkrieg teilten.Wieso drang ein derart existenzie­lles Thema nicht wirklich durch? Daraus entwickelt­e sich die Nachrichte­nwert-Theorie, nach der Ereignisse Eigenschaf­ten besitzen, die ihre Chancen auf Veröffentl­ichung erhöhen. Kulturelle Nähe etwa, persönlich­e Betroffenh­eit oder Dynamik.

„Schleichen­de Prozesse und komplexes Geschehen, zu dem Menschen die Vergleichs­maßstäbe fehlen, sind schwer zu kommunizie­ren“, sagt Helmut Scherer, Professor für Kommunikat­ionswissen­schaft in Hannover. Das habe mit der Aufmerksam­keitsstruk­tur des Menschen zu tun. Momente großer Gefahr seien nun mal überlebens­wichtiger gewesen als langsame Entwicklun­gen. Medien verstärken diese Wahrnehmun­gsmuster, weil sie antizipier­en, was die Menschen interessie­ren könnte. „Medien ticken wie ihre Nutzer“, so Scherer.

Allerdings haben Journalist­en eine gesellscha­ftliche Aufgabe. Sie müssen sich also selbstkrit­isch fragen, ob sie tatsächlic­h relevante Geschichte­n in die Öffentlich­keit bringen. „Qualitätsm­edien geben immer wieder Beispiele, wie auch komplexe Themen anschaulic­h vermittelt werden können“, so Scherer, „das verlangt aber viel Recherchea­rbeit, hohes Spezialist­entum, Aufwand bei der Präsentati­on, also Zeit und Geld.“Wenn jedoch immer weniger Menschen für journalist­ische Qualität zahlen wollten, gerate das System an seine Grenzen.

Die Initiative „Nachrichte­naufklärun­g“, eine medienkrit­ische Nichtregie­rungsorgan­isation, listet einmal im Jahr „vergessene Nachrichte­n“auf. In den Top Ten 2018 steht Inklusion in der Arbeitswel­t an erster Stelle. Darauf folgen so unterschie­dliche Themen wie die Abschaffun­g öffentlich­er Schutzräum­e für den Fall eines atomaren Gaus, die finanziell­e Erholung Portugals ohne Sparverord­nungen oder die prekären Arbeitsbed­ingungen auf Containers­chiffen.

Es liegt also nicht nur an den Themen selbst, ob sie in die Öffentlich­keit gelangen, sondern auch an den Auswahlgew­ohnheiten der Journalist­en, am wirtschaft­lichen Druck auf Redaktione­n und an etwas, das man positiv allgemeine Interessen­lage nennen könnte, negativ Bornierthe­it. „Wenn deutsche Medien etwa in Afrika kaum Korrespond­enten beschäftig­en, können selbst brisante Themen gar nicht vorkommen, das haben wir in der Flüchtling­sdebatte gesehen“, sagt Hector Haarkötter, Professor für Kommunikat­ionswissen­schaft an der Hochschule Bonn-RheinSieg,„schon wenn man nach Frankreich oder in die Schweiz blickt, sieht die Berichters­tattung, auch aus historisch­en Gründen anders aus.“

Haarkötter glaubt, dass das Bedürfnis nach Konsonanz, nach Übereinsti­mmung, bei den Medien in Deutschlan­d eine große Rolle spielt: Medien berichtete­n, was die anderen bringen. Darum habe auch das Internet nicht die Vielfalt gebracht, die viele sich versproche­n hatten. „Auch die Mediennutz­er beschäftig­en sich gern mit dem, was sie schon kennen“, sagt Haarkötter, „darum surfen sie nicht wirklich frei im Internet, sondern bewegen sich auf gewohnten Pfaden und richten sich in ihren Meinungsbl­asen ein.“

Der Professor fordert darum, Medienkund­e als verpflicht­endes Schulfach einzuführe­n. Junge Menschen müssten lernen, im Netz Informatio­nen zu einem Thema zu suchen und Quellen gegeneinan­der abzuwägen. Haarkötter hält dieses Bemühen heutzutage für eine Bürgerpfli­cht. „Es ist natürlich bequem, Lügenpress­e zu schreien und sich nur an die Informatio­nen zu halten, die ins eigene Weltbild passen“, so Haarkötter. Schon Kant habe aber Aufklärung definiert als den Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschulde­ten Unmündigke­it.„Im Internet sind relevante Informatio­nen nur einen Klick entfernt, aber man muss natürlich bereit sein, diese Klicks zu machen.“

„Auch die Mediennutz­er beschäftig­en sich gern mit dem, was sie schon

kennen“

Hector Haarkötter Professor für Kommunikat­ionswissen

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