Rheinische Post Emmerich-Rees

Pfaffs Hof

- Von Hiltrud Leenders

Die Sprechstun­denfrau nahm mir das Lätzchen ab und hob mich aus dem Stuhl. „Die sind sehr stark“, sagte von Güstrow.„Also für die Kleine immer nur eine halbe. Und auch nur, wenn es gar nicht anders geht.“

Die ganzen Tage, bis mir endlich die Zähne gezogen wurden, konnte ich nur noch an diese Prothese denken.

Würde man sofort sehen, dass ich keine echten Zähne mehr hatte?

Am besten war es wohl, wenn ich nicht mehr lächelte und die Lippen schön zusammenhi­elt.

Ich wusste aus der „Bravo“, dass man sich Zungenküss­e gab, wenn man Liebe miteinande­r machte. Wie sollte das gehen?

Der Junge würde doch sofort spüren, dass ich einen Gaumen aus Plastik hatte!

Ich würde niemals einen Freund haben. Eine alte „Juffer“sein wie Fräulein Maslow.

Dann war es so weit.

Keine nette Sprechstun­denhilfe heute, nur Dr. von Güstrow.

Er ließ mich allein auf den Stuhl klettern.

Dann rollte er das Gestell mit den beiden Gasflasche­n heran, das immer neben dem Fenster stand.

„Lachgas“, sagte er zu Mutter. „So kann ich besser arbeiten.“

Er stülpte mir eine Gummikappe über Nase und Mund.„So, jetzt wollen wir dem Kind mal ein paar schöne Träume bereiten.“

Lachgas? Würde ich gleich anfangen zu lachen?

Ich hielt die Luft an, und der Doktor kniff mir feste ins Kinn. „Atme!“

Dann war da nichts mehr. Ich nicht, gar nichts.

Mir war furchtbar kalt. Mein Mund war dick mit Watte ausgestopf­t. Alles schmeckte nach Blut.

Schließlic­h merkte ich, dass ich im Folterstuh­l lag und das weiße Licht mir in die Augen schien.

Und niemand war da.

Ich fror so sehr, dass ich am ganzen Körper zitterte.

Die Gasflasche­n standen neben dem Stuhl, rote Schläuche ringelten sich von ihnen zu der Gummikappe, die auf meinem Bauch lag.

Ich hatte einen Latz um, der mir bis zu den Oberschenk­eln reichte. Und niemand war da. Dann hörte ich Mutter kichern. Ich stützte mich auf und drehte mich um.

Aber da war keiner. Nur Fliesen. Ein Mann machte ein tiefes Geräusch, und Mutter lachte wie eine dicke Taube.

„Mutti“, wollte ich rufen, aber wegen der Watte kam nur ein „Mmpf“heraus.

„Ich bin ja hier“, kam sie angezwitsc­hert, der Doktor direkt hinter ihr.

Ich machte die Augen zu, ich wollte sie nicht angucken.

Güstrow holte mit einer Pinzette die Watte aus meinem Mund und drückte mir das Gebiss in die Wunden.

Mit der Zunge konnte ich den Plastikgau­men fühlen und die Stahlklamm­ern, mit denen die Prothese an den Eckzähnen befestigt war.

„Na, das sieht doch prächtig aus!“Er hielt mir einen Spiegel vors Gesicht.

Aber ich machte die Augen nicht auf.

Draußen vor der Praxis wartete Vater mit seinem Fahrrad.

„Halt dich an meiner Schulter fest. Ich ziehe dich nach Hause.“

Dann wurde wieder gekämpft. Gabi und Klara und die Mädchen, die auf der anderen Seite der Anstalt wohnten, fuhren zusammen mit dem Fahrrad zum Gymnasium.

Und ich hatte gedacht, ich würde einfach mit ihnen fahren. Es war ein ziemlich weiterWeg in die Stadt, von Pfaffs Hof aus brauchte man fast eine Stunde, aber mit den anderen Mädchen zusammen würde es bestimmt Spaß machen.

Vater sagte einfach: „Nein!“Seine Tochter würde mit dem Bus fahren.

Mutter sagte: „Du bist bekloppt.“Und ich fragte: „Warum denn?“Vater wollte zuerst wie immer nur seine Handbewegu­ng machen, schaute mir dann aber in die Augen.

„Ich habe jeden Tag mit Verbrecher­n zu tun. Ich weiß, wer sich auf den Straßen herumtreib­t. Glaubst du, ich will, dass du so einem in die Hände fällst?“

„Aber . . .“

„Keine Widerworte!“

Ich war ja schon öfter mit dem Bus in die Stadt gefahren, aber immer nur mit Mutter zusammen. Ich wusste nicht, an welcher Haltestell­e ich aussteigen musste, und kannte den Fahrplan nicht. Bestimmt brauchte ich auch eine Monatskart­e.

„Darum kümmert sich deine Mutter.“

Die lachte. „Ich denke gar nicht dran. Wenn du den feinen Herrn markieren willst, dann kannst du das selber in die Hand nehmen, mein Lieber.“

Anschließe­nd sprachen sie nicht mehr miteinande­r.

Ich wurde fast verrückt. Dann fiel mir ein, dass Opa und Tante Meta ja gleich um die Ecke meiner neuen Schule wohnten. Die beiden hatten kein Auto und fuhren immer mit dem Bus. Sie würden Bescheid wissen.

„Darf ich Tante Meta anrufen?“„Warum das denn?“Mutter guckte mich misstrauis­ch an. „Wegen dem Bus . . .“„Dummes Zeug! Dafür brauchen wir keine Tante Meta. Das wäre ja noch schöner!“

Auf einmal war alles ganz schnell geregelt.

Mutter telefonier­te mit der Schule und erfuhr, dass die „Auswärtige­n“in der sechsten Stunde zehn Minuten früher aus dem Unterricht durften, damit sie ihren Bus kriegten und nicht eine ganze Stunde warten mussten.

Sie fuhr sogar mit mir in die Stadt, eine Monatskart­e kaufen, zeigte mir meine Bushaltest­elle und ging zusammen mit mir den Weg bis zur Schule.

Vater sorgte dafür, dass ich mein Fahrrad morgens hinter dem „Salon Jansen“abstellen durfte, damit es nicht geklaut wurde.

Aber miteinande­r sprachen sie immer noch nicht.

Vater schaufelte wortlos sein Abendessen in sich hinein und ging dann sofort ins Bett.

Dann erst machte Mutter das Essen für uns.

Mir war das alles egal. Jetzt kamen erst mal die Osterferie­n, und danach würde alles neu sein:

Ich würde um halb sechs aufstehen, von Pfaffs Hof zur Haltestell­e radeln, mit dem Bus in die Stadt fahren und zur Schule laufen.

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