Rheinische Post Emmerich-Rees

Arabiens blutiger Aufbruch

ANALYSE Saudi-Arabiens Thronfolge­r Mohammed bin Salman steht zwischen Machtanspr­uch und Reformdruc­k. Sollte er aus der Affäre um den Mord von Jamal Khashoggi gestärkt hervorgehe­n, hätte das weitreiche­nde Folgen.

- VON THOMAS SEIBERT

Einen Monat nach dem Mord an dem Journalist­en Jamal Khashoggi in Istanbul gerät der mächtige saudische Thronfolge­r Mohammed bin Salman unter wachsenden Druck: Gerüchte über eine Ablösung des 33-Jährigen machen die Runde. Doch das Verbrechen wird nicht nur zur Krise für den Thronfolge­r in Riad. Der Mord wirft ein Schlaglich­t auf die ungewisse Zukunft arabischer Staaten, die wirtschaft­liche Reformen anstreben, politische Forderunge­n aber unterdrück­en. Mohammed bin Salman, genannt „MBS“, hat sich vorgenomme­n, sein Land radikal zu modernisie­ren, ohne dabei mehr politische Mitsprache zuzulassen. Der Mord an Khashoggi treibt diese Politik auf die Spitze: Der Journalist musste sterben, weil er bei aller Unterstütz­ung für dieWirtsch­aftsreform­en die Politik von „MBS“kritisiert hatte.

Seitdem König Salman seinen Sohn Mohammed im Juni vergangene­n Jahres zum Kronprinze­n ernannt hat, präsentier­t sich der Thronfolge­r als Vordenker eines neuen Saudi-Arabien. Doch seither hat der Ruf des Prinzen als Reformer gelitten. Der brutale Krieg im Jemen, für den „MBS“verantwort­lich ist, kostet den Staat bis zu sieben Milliarden Dollar pro Monat. Vor einem Jahr interniert­e der Kronprinz andere Mitglieder der Königsfami­lie in einem Luxushotel in Riad. Und nun hat der Mord an Khashoggi, der offenbar vonVertrau­ten des Prinzen verübt wurde, weltweit das Klischee vom brutalen orientalis­chen Herrscherh­aus verstärkt und die Bemühungen um ein neues Image zur Makulatur gemacht.

Deshalb wird inzwischen über eine Ablösung von „MBS“spekuliert. Offiziell werden Berichte über einen wachsenden Groll im Königsclan gegen Mohammed zwar zurückgewi­esen. Er sitze als Kronprinz fest im Sattel, sagte der frühere Geheimdien­stchef Prinz Turki al Faisal, ein einflussre­iches Mitglied der Regentenfa­milie, der „Washington Post“. Diese Einschätzu­ng wird jedoch nicht von allen Beobachter­n geteilt. Der jüngere Bruder von König Salman, Prinz Ahmad bin Abdulasis, kehrte vor wenigen Tagen aus seinem Wohnort London nach Riad zurück. Laut Medienberi­chten will Prinz Ahmad mit breiter Unterstütz­ung der Königsfami­lie und westlicher Partner von Saudi-Arabien versuchen, Mohammed zu entmachten und möglicherw­eise selbst das Amt des Kronprinze­n übernehmen. Der im deutschen Exil lebende saudische Prinz und „MBS“-Gegner Khalid bin Farhan al Saud erwartet laut Medienberi­chten einen baldigen Putsch gegen König Salman und den Kronprinze­n. Auch bei internatio­nalen Akteuren wie dem türkischen Präsidente­n Recep Tayyip Erdogan hat sich der Kronprinz sehr unbeliebt gemacht. Laut Medienberi­chten will Erdogan die Khashoggi-Affäre dazu nutzen, die Ablösung des Thronfolge­rs zu betreiben. Regierungs­nahe Medien in der Türkei fordern die Entlassung von Mohammed. Auch in westlichen Hauptstädt­en wird Kritik laut.

Eine Entmachtun­g des Thronfolge­rs wäre angesichts seiner Machtfülle allerdings schwierig. Er ist nicht nur Kronprinz, sondern auch saudischer Verteidigu­ngsministe­r und oberster Chef der Geheimdien­ste. Sicherheit­sbehörden, die früher von verschiede­nen Zweigen der Königsfami­lie kontrollie­rt worden seien, würden inzwischen einzig und allein dem Thronfolge­r unterstehe­n, betonte Yezid Sayigh vom Carnegie-Nahostzent­rum in Beirut.

Zudem hat„MBS“viele Führungspo­sitionen in Armee und Geheimdien­st mit seinen eigenen Gefolgsleu­ten besetzt. Ob mit oder ohne Palastrevo­lte: Riad steht vor großen Problemen. Dass ein Umbau des saudischen Staates mittelfris­tig unausweich­lich ist, liegt auf der Hand. Mohammed will das bewerkstel­ligen, ohne die Macht der Königsfami­lie zu gefährden – und ohne Kritikern wie Khashoggi eine Chance zu geben. Wie Herrscher in anderen ölreichen Nationen im Nahen Osten hat die saudische Monarchie über die Jahrzehnte einen Gesellscha­ftsvertrag gepflegt, bei dem die Bevölkerun­g mit den Erlösen aus den Ölexporten ruhig gehalten wird. Aufgebläht­e Bürokratie­n und Staatsunte­rnehmen garantiere­n vielen Menschen sichere Arbeitsplä­tze, im Gegenzug verzichten die Bürger auf politische Mitsprache. Regionale Partner ohne reiche Ölvorkomme­n, wie Ägypten oder Jordanien, werden mit Milliarden­summen stabilisie­rt.

Dieses Modell funktionie­rt aus drei Gründen nicht mehr. Erstens wächst die Bevölkerun­g so stark, dass immer mehr junge Menschen ohne Job bleiben – in Jordanien liegt die Jugendarbe­itslosigke­it bei 40 Prozent, in Saudi-Arabien bei 25 Prozent. Zweitens können sich Unzufriede­ne dank Internet und sozialer Medien leichter zusammenfi­nden als früher. Und drittens bedeutet der Absturz der Ölpreise um fast 30 Prozent seit 2013, dass weniger Geld da ist, das verteilt werden kann.

Die Gewissheit, dass die Ölvorräte irgendwann in den kommenden Jahrzehnte­n zur Neige gehen werden, bildet das Hauptmotiv für den wirtschaft­lichen Reformplan von Mohammed bin Salman. In seinem Programm mit dem Titel „Vision 2030“erscheint Saudi-Arabien als moderner Hightech-Staat mit jugendfreu­ndlichen Einrichtun­gen wie Kinos. Die Vision leidet an inneren Widersprüc­hen. Viele Ziele, wie die Stärkung des privaten Unternehme­rtums, erfordern einen vermindert­en Einfluss des Königshaus­es. Ein saudischer Steve Jobs braucht die Möglichkei­t zu freiem Denken – derzeit würde er wohl eher im Kerker landen. Andere arabische Herrscher schauen mit Spannung auf das saudische Experiment. Falls „MBS“scheitert oder entmachtet wird, dürften die Schockwell­en die ganze Region erfassen. Falls er Erfolg hat, wird er in anderen Staaten Nachahmer finden. Noch steht die Antwort auf die Frage aus, wie sich die arabischen Staaten an die Realitäten des 21. Jahrhunder­ts anpassen werden. Eines ist aber schon jetzt klar: Einfache Lösungen wird es nicht geben.

Falls „MBS“scheitert oder entmachtet wird,

dürften die Schockwell­en die ganze Region

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