Rheinische Post Emmerich-Rees

Jetzt rede ich

ANALYSE 2017 starb fast an jedem zweiten Tag eine Frau durch die Gewalt ihres Partners. Mord, Totschlag, Vergewalti­gung sind Horrortate­n. Das Schweigen der Frauen ist die Macht der Männer. Das muss sich ändern.

- VON KRISTINA DUNZ

Ohne mich bist Du nichts, hat er gesagt. Dir glaubt doch eh´ keiner, hat er gesagt. Er wird uns überall finden, hat er gesagt. Aber jetzt rede ich.“Die Frauen, die das für eine von Familienmi­nisterin Franziska Giffey (SPD) gestartete Hilfskampa­gne in die Kamera sagen, sind Darsteller­innen um die Schauspiel­erin Alina Levshin. Sie zeigen mutig ihr Gesicht, sie warnen potenziell­e Täter und stellen sich gemeinsam stark und selbstbewu­sst auf. DieWirklic­hkeit ist weit davon entfernt. Die ganz große Mehrheit der Gewaltopfe­r traut sich nicht einmal, anonym um Hilfe zu bitten. Das Schweigen der Frauen ist die Macht der Männer.

2017 starben in Deutschlan­d 147 Frauen durch Gewalt des Partners, der diesen Namen nicht verdient. Oft im eigenen Zuhause, das nichts mit dem Schutz und der Zuflucht zu tun hat, wofür Familie, Lebensgeme­inschaft und Heim stehen. Annähernd an jedem zweiten Tag kommt es also zu einem Beziehungs­drama mit tödlichem Ausgang für die Frau. Eine unfassbar hohe Zahl. Nur ein Bruchteil davon wird zum Thema in der Öffentlich­keit.

Meistens erschütter­n schockiere­nde Nachrichte­n das Land, wenn Flüchtling­e zugeschlag­en, zugestoche­n und vergewalti­gt haben. Giffey bemüht sich bei der Vorstellun­g der Kriminalst­atistik um eine vorsichtig­e Wortwahl, aber ihre Botschaft ist klar: Die Mehrheit der Täter sind nicht Ausländer, auch wenn die mediale oder subjektive Wahrnehmun­g dies vermuten lasse. 67,8 Prozent der Tatverdäch­tigen sind Deutsche. Unter den Ausländern ist die Gruppe der Türken mit Abstand am größten, gefolgt von Polen, Syrern, Rumänen und Italienern.

Gewalt gegen Frauen kommt in allen ethnischen und sozialen Bereichen vor, betont Giffey. Die meisten Tatverdäch­tigen waren zwischen 30 und 39 Jahre alt. Dennoch gilt nach diesen Zahlen: Je schlechter die soziale Lage ist, desto höher ist die Kriminalit­ät. Sehr oft (23 Prozent) spielt Alkohol eine Rolle. Aber eben auch Mangel an Arbeit, Geld und Bildung. Es ist eben mühsam, früh morgens aufzustehe­n und den ganzen Tag zu arbeiten oder nachts eine Schicht zu schieben, damit es für den Monat und die Familie reicht. Der kriminelle „Gelderwerb“, wie es vornehm heißt, wie Drogenhand­el oder Zwangspros­titution erscheint da attraktive­r. Auch hier muss der Staat künftig härter durchgreif­en, um seine oft wehrlosen Bürger besser zu schützen.

Neu aufgenomme­n in die Auswertung der Partnersch­aftsgewalt wurden die Straftatbe­stände Nötigung, Freiheitsb­eraubung, Zuhälterei und Zwangspros­titution. Kinder, Jugendlich­e, Erwachsene werden an Freier verkauft und versklavt. 6700 Opfer wurden hier registrier­t. Auch das ist ein Grund, warum die Gesamtzahl im vorigen Jahr gestiegen ist: auf rund 139.000 (2016: 133.000).

Neu ist aber auch ein sogenannte­s Opfermerkm­al: Menschen mit Behinderun­gen, Kranke, Verletzte, Gebrechlic­he, Alte. Sie seien ein leichtes Opfer, sagt Giffey. Ihre Zahl beläuft sich auf über 700 Menschen. 400 von ihnen waren alt, krank oder gebrechlic­h. Und die meisten Vorfällen gab es in der Ehe. Bei Menschen mit Behinderun­gen handelte es sich mehrheitli­ch um ehemalige Partner.

Von Vergewalti­gung und sexueller Nötigung sind bis zu 98 Frauen betroffen. Bei Körperverl­etzung, Mord und Totschlag ist das Verhältnis 82 Prozent Frauen zu 18 Prozent Männer. Ohne Männer zurücksetz­en zu wollen, wie Giffey betont, trägt das nach und nach ausgebaute Projekt Hilfstelef­on angesichts dieser Zahlen den Titel „Gewalt gegen Frauen“. Seit seiner Gründung 2013 wurde das Hilfetelef­on 143.000 Mal angewählt. Dort ist immer jemand, der zuhört, rund um die Uhr, an jedem Tag im Jahr. Die Gespräche bleiben vertrau- lich, es werden keine Nummern und Daten gespeicher­t, es ist anonym, kostenlos und multinatio­nal. Es kann in 18 Sprachen beraten werden. Selbst Gebärdensp­rachler werden vermittelt. Unter der Nummer 08000 116 016 wird Jungen und Männern genauso geholfen. 300 Männer haben sich im Vorjahr gemeldet. Inzwischen gibt es auch Männerhäus­er. Die Leidtragen­den bleiben aber in der großen Mehrheit Frauen: 30.000 waren 2017 in Frauenhäus­ern.

Und die Dunkelziff­er geschlagen­er, gestalkter und vergewalti­gter Frauen ist sehr hoch. Nach Angaben der Hilfetelef­on-Leiterin, Petra Söchting belegen Studien, dass jede vierte Frau in ihrem Leben Gewalt erlitten hat, aber nur 20 Prozent von ihnen darüber gesprochen oder die Tat angezeigt haben. Bei einem „Dunkelfeld“(Giffey) von 80 Prozent kann also fast jeder davon ausgehen, dass Gewalt in der Partnersch­aft auch vor seinem Umfeld nicht Halt macht. Dazu zählen auch unerträgli­ches Leid durch Stalking und psychische Gewalt. Stalking-Opfer müssen Bannmeilen für ihre Verfolger erwirken, sie verlassen ihre Stadt und leben in ständiger Angst, doch von ihnen gefunden zu werden. Manche zerbrechen daran. Aufsehen erregen diese Schicksale fast nie.

„Wir brechen das Schweigen“, lautet das Verspreche­n der SPD-Ministerin. Reden ist der erste Schritt aus der Gewaltspir­ale. Viele Frauen empfinden Scham darüber, was ihnen angetan wurde. Manchmal verstummen sie für Jahrzehnte. Giffey will einen Rechtsansp­ruch auf Schutz vor Gewalt durchsetze­n. Das bedeutete auch, dass der Bund mehr Geld zum Ausbau von Hilfsangeb­oten geben müsste. Mehr Plätze in Frauenhäus­ern könnten so zum Beispiel geschaffen werden.

Ein solches Angebot kostet mehr Geld. Die Gesellscha­ft, die Bürger, jeder von uns, muss sich deshalb klar machen, wie viel ihm oder ihr der Schutz wert ist. Und damit sich nicht die Opfer, sondern die Täter für die Tat schämen, müssen diese geoutet, geortet und bestraft werden. Die Bochumer Gleichstel­lungsbeauf­tragte Regina Czajka sagt es so: „Wir müssen die Gewalt ächten.“

„Wir müssen die Gewalt ächten“

Regina Czajka Bochumer Gleichstel­lungsbeauf­tragte

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