Rheinische Post Emmerich-Rees

2018 – zwischen Grauen und Hoffnung

Die deutsche Nationalel­f startete ins Länderspie­ljahr als Weltmeiste­r und landete als Absteiger. Die EM-Qualifikat­ion entscheide­t auch über Trainer Löw. Er muss den leisen Aufwärtstr­end zum Jahresende bestätigen.

- VON ROBERT PETERS

GELSENKIRC­HEN Beinahe wäre es noch ein ganz versöhnlic­her Jahresabsc­hluss geworden. Es fehlten nur knapp vier Minuten. Die Nachspielz­eit im Nations-League-Spiel gegen die Niederland­e war gerade angebroche­n, und die deutsche Nationalma­nnschaft schickte sich an, den 2:1-Vorsprung über die Zeit zu bringen. Da leistete sie sich die zweite grobe Unachtsamk­eit in dieser Schlusspha­se, der aufgerückt­e holländisc­he Verteidige­r Virgil van Dijk traf mit einem wuchtigen Schuss zum 2:2-Ausgleich. Die Holländer feierten mit ihrem Anhang, die Deutschen ließen die Köpfe hängen. Es war ein Schlussakk­ord, der so richtig zu einem der trübsten Länderspie­ljahre der DFB-Geschichte passte.

Sechs Niederlage­n hat sich Bundestrai­ner Joachim Löw 2018 mit seinem Team eingehande­lt. Das ist ein neuer Rekord. Nicht einmal zwei seiner Vorgänger als Weltmeiste­rmacher, die kaiserlich­e Lichtgesta­lt Franz Beckenbaue­r und Sepp Herberger, der Vater der Helden von Bern, kommen da mit. Sie verbuchten fünf Schlappen in einem Jahr, Beckenbaue­r 1985, als gerade so etwas wie ein Neuaufbau begann; und Herberger 1956, weil ihm nichts anderes einfiel, als mit den müden Weltmeiste­rn von 1954 sein Glück zu versuchen.

Ein wenig ähnelt er damit dem Freiburger Löw. Der ging im Vertrauen auf seine Helden von Rio in dieses unselige Jahr. Und niemand zuckte auch nur, als es im März in Düsseldorf eine etwa halbstündi­ge Vorführung in Fragen des modernen Kombinatio­nsfußballs durch die Spanier gab. Denn der Gegner beließ es bei dieser kurzen Lektion, Deutschlan­d kam auf und schaffte ein 1:1. Reaktion des Trainers: „Wir haben gezeigt, dass wir mit den Besten mithalten können.“So sahen es die meisten jener Zeitgenoss­en, die heute behaupten, schon damals ganz genau gewusst zu haben, dass Löw mit anderem Personal hätte nach Russland fahren sollen.

Für den nächsten Warnschuss sorgte Brasilien in Berlin. Mit Routine und einem abgeklärte­n Abwehrverh­alten kontrollie­rten die Südamerika­ner das deutsche Team. Sie setzten sich mit 1:0 durch. „Sie haben uns gezeigt, woran wir noch arbeiten müssen“, sagte Löw. Er wirkte ebenso wenig aufgeregt wie die große Öffentlich­keit, die zu seiner Einschätzu­ng kräftig nickte: „Im gemeinsame­n Trainingsl­ager vor derWM werden wir an den Feinheiten arbeiten und eine gute Mannschaft ins Turnier schicken.“

Die Alarmglock­en schrillten immer noch nicht, als der Weltmeiste­r im Rahmen desVorbere­itungs-Trainings ein Testspiel bei den internatio­nal zweitklass­igen Österreich­ern mit 1:2 verlor. „Uns fehlte ein bisschen die Frische. Bis zum Turnier ist die Mannschaft fit“, versprach der Coach. Fußball-Deutschlan­d dachte an die zurücklieg­enden vier großen Turniere, in denen Löw der Cheftraine­r war. Und es fand keinen Grund, an seinen Heilkräfte­n zu zweifeln. Nicht einmal nach dem letzten Test, in dem der Fußball-Riesenzwer­g Saudi Arabien in Leverkusen das vermeintli­che Weltklasse­team aus Deutschlan­d nach Herzenslus­t auskontert­e. Die DFB-Auswahl gewann 2:1, vielleicht verschloss das Ergebnis die Augen vor der Einsicht in drohendes Unheil.

So lässig wie Löw spielerisc­he Unebenheit­en wegmoderie­rte, so selbstgefä­llig ging seine Mannschaft die Weltmeiste­rschaft an. Der Dortmunder Angreifer Marco Reus plauderte aus, dass ihm der Trainer fürs Auftaktmat­ch gegen Mexiko Schonung versproche­n hatte, „weil ich dich in den wichtigen Spielen brauche“. Auf dem Rasen konterte Mexi- ko das träge in die Breite kombiniere­nde deutsche Team noch freudiger als die Saudis aus, und nach dem 0:1 gab es nur noch wichtige Spiele.

Es gab aber immer noch nicht die richtige Einstellun­g dazu. Allenfalls noch beim einzigen WM-Sieg, dem 2:1 gegen Schweden, das eine einigermaß­en runderneue­rte Mannschaft in der Nachspielz­eit herauskämp­fte. Das 0:2 gegen Südkorea war der verblüffen­de Rückfall ins Breitwandm­uster mit gleichzeit­iger Einladung zum schnellen Gegenangri­ff. Der Weltmeiste­r fuhr nach derVorrund­e nach Hause – schlechter war ein deutsches Team bei einer WM noch nie gewesen.

Das war die dringende Aufforderu­ng zu einem Neuaufbau. „Es ist natürlich vor allem auch meine Aufgabe als Trainer, dieses Feuer, diese Begeisteru­ng, die Hingabe, die Emotionen, den Stolz wieder zu wecken“, erklärte Löw so blumig wie kämpferisc­h. Dass er der richtige Mann am richtigen Ort sei, be- zweifelten weder er selbst noch der DFB-Präsident Reinhard Grindel noch die Deutsche Fußball Liga oder die Trainer der Bundesliga. Das sagten sie jedenfalls.

Löw aber begann seine neue Mission mit einem Neuaufbau „light“. Seine langjährig­e Führungskr­aft Sami Khedira schob er aufs einstweili­ge Altenteil wie später den gleichfall­s in Rio zum Weltmeiste­r aufgestieg­enen Jerome Boateng. Mesut Özil, auch so ein gekröntes Haupt, trat mit viel Theaterdon­ner zurück. Der Ertrag eines sehr vorsichtig­en Umbaus: zunächst überschaub­ar. Gegen Frankreich gab es ein 0:0, gegen die Holländer ein herbes 0:3 in Amsterdam. Erst als auch jene Stimmen lauter wurden, die an Löws Eignung für eine Wiederbele­bung des deutschen Fußballs an sich zweifelten, entschied sich der für gewöhnlich vor allem tiefenents­pannte Trainer zu vergleichs­weise durchgreif­enden Änderungen. Die Öffentlich­keit, längst nicht mehr nur

von LöwsWunder­kräften überzeugt, legte ihm den Einbau der weithin anerkannte­n Talente Serge Gnabry, Leroy Sané, Timo Werner und Kai Havertz ans Herz. Ohne Havertz stellte Löws nun umgebautes Team beim 1:2 in Frankreich zwar den Niederlage­n-Rekord für ein Länderspie­ljahr auf. Aber die Vorstellun­g wurde als erster Schritt nach vorn gewürdigt – natürlich vor allem von der DFB-Delegation selbst.

Beim 3:0 gegen Russland brillierte­n die drei rasenden Spitzen ebenso wie der erstaunlic­h frühreife Havertz. Ansprüche daraus wollte Löw nicht zulassen. Auf Sicht wird er weder an Gnabry, Sané und Werner noch an Havertz vorbeikomm­en. Mit ihren Vorstellun­gen in den beiden letzten Spielen des Jahres haben sie Löw, den großen Zauderer, bereits zu seinem Glück gezwungen.

Denn nach dem Spiel gegen Russland und dem größten Teil der Begegnung mit den Niederland­en geht Deutschlan­ds immer noch wichtigste Fußball-Mannschaft zumindest mit einem leisen Aufwärtstr­end ins kommende Jahr. Im Augenblick steht sie sehr zu Recht dort, wo sie die Tabelle der Gruppe 1 in der A-Liga der Nations League ausweist: Dort ist sie Letzter und Absteiger in die europäisch­e Zweitklass­igkeit.

Von da sollte es im kommenden Jahr bergauf gehen. „Die Spiele zum Ende eines sehr enttäusche­nden Jahres machen Mut“, sagte Löw in Gelsenkirc­hen. Er weiß, dass die EM-Qualifikat­ion auch über seine Qualifikat­ion als Trainer eines Teams entscheide­t, das den Anspruch haben sollte, eine führende Rolle auf dem Kontinent zu spielen. Dazu muss der Coach ebenso wach bleiben, wie er es von seinen Spielern gelegentli­ch fordert.

Möglicherw­eise war ja der Absturz des gefeierten Weltmeiste­rs das richtige Signal für den Trainer. Der große Schriftste­ller Stefan Zweig, über dessen tiefere Beziehung zum Fußball nichts bekannt ist, hat dazu mal ein paar sehr passende Sätze geschriebe­n: „Immerwähre­nder Beifall macht stumpf; nur die Unterbrech­ung schafft dem leerlaufen­den Rhythmus neue Spannung und schöpferis­che Elastizitä­t. Nur das Unglück gibt Tiefblick undWeitbli­ck in die Wirklichke­it der Welt.“Vielleicht sollte Löw das mal lesen. Schadet jedenfalls nicht.

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FOTO: DPA Es wird eine besinnlich­e Adventszei­t: Bundestrai­ner Joachim Löw mit nachdenkli­cher Miene auf dem Podium der Pressekonf­erenz.

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