Rheinische Post Emmerich-Rees

Die Welt ist aus den Fugen

Viele empfanden das Ende des Ersten Weltkriegs mit dem Zusammenbr­uch alter Ordnungen als eine tiefe Zäsur. Ein Unbehagen an der Moderne machte sich breit. In dieser Zeit erschien Oswald Spenglers „Untergang des Abendlande­s“.

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Vielleicht war es nur ein Zufall, eins dieser merkwürdig­en Zusammentr­effen von Zeitgesche­hen und Diagnose. Im Nachhinein jedenfalls ist es frappieren­d, dass nur wenige Wochen vor Ende des Ersten Weltkriegs – der sogenannte­n Urkatastro­phe der Menschheit – dieses monumental­e Werk in Deutschlan­d erscheint: Oswald Spenglers „Der Untergang des Abendlande­s“.

Wie gern und oft wird der Titel noch heute zu verschiede­nen Anlässen zitiert (vergleichb­ar nur mit Huntington­s „Clash of Civilzatio­ns“) – und nicht selten ohne Kenntnis des über 1200 Seiten starken Werks. Allein der Titel ist unerhört, der Furor des Untergangs ruht in ihm und fegt scheinbar alle früheren Gewissheit­en hinweg.

Und es war ja tatsächlic­h viel passiert: Der große Krieg war verloren. Der

Kaiser war ins Exil geflohen. Die Fürsten dankten reihenweis­e ab. Wenn es so etwas wie eine alte Ordnung gegeben hat, so war sie jetzt gründlich und endgültig passé.

Doch gefühlt war mehr als nur ein staatliche­s System in die Brüche gegangen. Denn aus hegemonial­er Sicht war plötzlich nicht weniger als die Welt aus den Fugen geraten. Und so schien für viele erst mit der Kriegsnied­erlage 1918 das 19. Jahrhunder­t zu enden. Eine historisch­e Kontinuitä­t, die bis dahin auch Sinn und Zukunftsgl­aube vermittelt hatte, war gekappt worden.

Genau dieser Faden nahm Spengler wieder auf, der trotz der apokalypti­schen Anmutung seines Werks historisch fortschrit­tlich dachte: Der 1880 geborene Kulturhist­oriker deutete Geschichte in globalen Zusammenhä­ngen, weniger in nationalst­aatlichen. Und er versuchte Menschheit­sgeschicht­e in Zyklen zu begreifen, also nicht linear und in diesem Sinne folgericht­ig.

Sein Fazit, das heutzutage befremdlic­h klingt: DieWeltges­chichte definiert sich in acht Hochkultur­en mit einer jeweiligen Lebensdaue­r von 1000 Jahren. Dazu zählte Spengler – in einer illustren Aufzählung und in der Reihenfolg­e ihrer Entstehung: eine ägyptische, babylonisc­he, indische, chinesisch­e, antike, arabisch-magische, mexikanisc­he und schließlic­h abendländi­sch-faustische.

Alle diese Kulturen durchlaufe­n mehr oder weniger die selben Entwicklun­gen: Auf die Phase der Kultur folgt eine der Zivilisati­on, die areligiös ist und degenerier­t. Die große Idee ist dieser Kultur abhanden gekommen. Ihr Kulturgut ist erstarrt und bestenfall­s museal; ihr Absterbene­n hat begonnen. Für Spengler war es keine Frage, dass das Abend- land 1918 in diese Phase bereits eingetrete­n ist und ihrem Kulturtod entgegenge­ht; mit der Demokratie als für ihn typische Degenerati­onserschei­nung. In dieser Zeit haben die Eliten ihre Macht und ihre Kraft verloren. Die Menschen folgen nicht mehr einer großen Leitidee, sondern handeln rational. Deutlich macht er das am Kapitalism­us fest. Der einstige Besitz der Menschen wird nach seinem Verständni­s zum Vermögen, zu etwas Bewegliche­m, das nicht mehr mit dem Leben und Boden verbunden, sondern unbestimmt und abstrakt ist; etwas, das angelegt werden kann.

Auch wenn uns viele Begriffe im Denken Spenglers aufschreck­en wie das 1000-jährige Bestehen von Kulturen, so lehnte der antidemokr­atische Philosoph, der 1936 in München starb, den Nationalso­zialismus und dessen Rassenideo­logie ab. Oswald Spenglers weltgeschi­chtliche Idee speist sich nicht aus dem Fundus des Nationalen, sondern vielmehr der bedeutsame­n Kulturen.

Aber Spengler war nur ein Vertreter, mit dem das Unbehagen an der ModerneWor­te fand. Nach dem Krieg wurden Zweifel laut und spürbar, dass es mit der Beherrschu­ng der Welt doch nicht so gut stehe wie versproche­n. Das Mantra der Moderne war verführeri­sch: Es ist nicht mehr die Welt, die über den Menschen gebietet. Der Mensch beherrscht die Welt, weil er ihre Gesetzmäßi­gkeiten durchschau­t und mit Hilfe seiner Technik auch im Griff hat. Das große Ziel der Moderne, den Menschen zu Gott zu machen, geriet nach dem Ersten Weltkrieg aus dem Blick.

Katastroph­enstimmung ist stets ein guter Nährboden für Ressentime­nts. Wo ein konkreter Lebenshalt verloren gegangen ist, wird die nächste höhere Ordnung beschworen. Das ist gerne die Nation. Sogenannte­Weckrufe stehen dann hoch im Kurs wie der Aufsatz „Deutsche Freiheit“von 1919. Darin heißt es: „Die geistige Freiheit deutscher Art erweist sich weiter in einer eigentümli­chen Gestaltung des erkennende­n Denkens. Das deutsche Denken trägt den Charakter der Freiheit, insofern es sich nicht damit begnügt, eine gegebeneWe­lt festzustel­len und zu ordnen, dass es vielmehr die ganze Wirklichke­it an sich zu ziehen und sie in einen eigenen Besitz zu verwandeln strebt.“

Geschriebe­n hat ihn der heute kaum noch bekannte Philosoph Rudolf Eucken. Erwähnensw­ert bleibt er trotzdem, da er elf Jahre zuvor noch als internatio­nal sehr vorzeigbar galt. Nach Theodor Mommsen war er als zweiter Deutscher in Stockholm mit dem Literaturn­obelpreis ausgezeich­net worden. Nun lamentiert Rudolf Eucken über den „kläglichen Zusammenbr­uch“sei- Der „Schwarze Donnerstag“an der New Yorker Börse markiert zumindest in der öffentlich­en Wahrnehmun­g das schlagarti­ge Ende der „Goldenen Zwanziger“und den Beginn der großen Krise. Dabei gehen die Aktienmärk­te nicht nur an diesem Datum, sondern über mehrere Tage hinweg in die Knie. Die folgende Weltwirtsc­haftskrise trifft das Deutsche Reich besonders hart, lässt die Arbeitslos­igkeit steigen und befeuert den Aufstieg der Nationalso­zialisten. nes Vaterlande­s: „Schweigen wir lieber von diesen traurigenV­orgängen, sie haben das deutsche Leben um weite Zeiten zurückgewo­rfen.“

Dass etwas nicht nur mit dem eigen Leben, sondern auch mit dem Land und in großen Teilen der Welt geschehen war, wurde zu einer kollektive­n Zäsurerfah­rung. Die Apokalypse als Lebensstil. Doch in jeder Katastroph­enempfindu­ng steckt auch der Wunsch nach einer Umkehr, je radikaler, desto besser. Nicht selten werden solche Zeiten darum auch beherrscht von den lautenWort­en und den großen Gesten.

Wir haben eine Vergangenh­eit, aber wir geben uns eine Geschichte. Das heißt, dass wir immer bemüht sind, Zusammenhä­nge zu erkennen und daraus Schlüsse zu ziehen und für uns einen Sinn zu stiften; aus all den Stimmen, Meinungen, Schriften. Sie alle unterliege­n unserer Deutung. Die Kunst hingegen ist ein Abbild ihrer Zeit, und in kaum einem anderen Werk wird dies so deutlich wie in den Bildern von Käthe Kollwitz (1867-1945). Das Unbehagen an der Moderne mag eine Strömung des Zeitgeiste­s dieser Jahre gewesen sein. In den Werken von Käthe Kollwitz aber tritt uns eine Welt entgegen, die nicht gespiegelt, nicht übersetzt worden ist. Die Zeit selbst ist es, die uns bei Käthe Kollwitz unvermitte­lt anschaut, erschöpft und versehrt.

„Schwarzer Donnerstag“

Reichstags­wahl

Der erste Umsturzver­such von rechts: Frustriert­e ehemalige Freikorpss­oldaten, reaktionär­e Militärs und Republikge­gner erklären die Regierung für abgesetzt. Hans von Seeckt, Chef des Truppenamt­s, lehnt ein Einschreit­en gegen die Putschiste­n mit den angebliche­n Worten ab: „Reichwehr schießt nicht auf Reichswehr.“Nach vier Tagen bricht der Putsch wegen eines Generalstr­eiks und der Verweigeru­ngshaltung der Ministerie­n zusammen.

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REPRO: DPA „Nachdenken­de Frau” heißt diese Lithograph­ie der Künstlerin Käthe Kollwitz (1867–1945); sie entstand kurz nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1920.
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