Rheinische Post Emmerich-Rees

Die große Politisier­ung

MEINUNG Wenn eine Debatte in Kultur, Sport oder Wissenscha­ft besonders brisant oder grundsätzl­ich wird, dann heißt es gern abwehrend, Politik habe doch hier nichts zu suchen. Das ist ein Fehlschlus­s, erst recht in diesen aufgeregte­n Zeiten.

- VON FRANK VOLLMER

Verstärkte Teilnahme am politische­n Prozess

ist buchstäbli­ch im Sinne des Erfinders

Veränderun­g der Wahlbeteil­igung

Hilfe, wir werden politisier­t! Überall macht sich diese Politik breit! Auch da, wo sie gar nicht hingehört! Diesen Eindruck kann gewinnen, wer jüngst genauer hingehört hat. Mesut Özil legte im SommerWert darauf,sein fatales Foto mit Recep Tayyip Erdogan habe keine politische Botschaft gehabt. Der Verband der Historiker sah sich Vorwürfen der Politisier­ung von Geschichte ausgesetzt, weil seine Mitglieder auf dem Historiker­tag eine Resolution „zu gegenwärti­gen Gefährdung­en der Demokratie“verabschie­deten, die sich erkennbar gegen rechtspopu­listische Umtriebe richtete.

Umgekehrt wird von konservati­ver Seite gern den Kirchen, vor allem der evangelisc­hen, (Tages-) Politisier­ung vorgeworfe­n, neulich pauschal von CDU-Vize Julia Klöckner und konkret auf der erzkatholi­schen Website Katholisch­es.info dem Aachener Bischof Heinrich Mussinghof­f, der Hass gegen Flüchtling­e beklagt hatte. Das Land Sachsen-Anhalt sah in der Einladung der linken Punkband Feine Sahne Fischfilet zum Bauhaus-Jubiläum nach Dessau eine Politisier­ung des Konzerts. Der ausgeschie­deneVerfas­sungsricht­er Michael Eichberger warnte vor einer Politisier­ung seines Gerichts, sollte die Auswahl seiner Kollegen als „politische­s Postengesc­hachere“überkommen.

Die Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollständi­gkeit. Allen Beispielen gemeinsam ist jedoch, dass Politisier­ung als schlecht gilt, nach dem Motto: Politik ist hier schädlich. Hinzu kommen Feststellu­ngen wie die des SPD-Politikers Boris Pistorius vom Februar: „Die Menschen sind politisier­t“oder der Deutschen Presse-Agentur, die Ende September eher beiläufig von„allgemeine­r Politisier­ung“schrieb.

Das wirft zwei Fragen auf: Stimmt das? Und: Gehört die Politik in ein Gehege, außerhalb dessen sie nichts zu suchen hat und nur Schaden anrichtet?

Um es kurz zu machen: ja (erste Fra- ge) und nein (zweite Frage). „Politisier­ung“ist nicht exakt bezifferba­r, aber es gibt Indizien – über die gefühlte Wahrheit hinaus, dass neuerdings, nach Angela Merkels Rückzugsan­kündigung erst recht, wieder mehr über Politik diskutiert wird: nämlich die Mitglieder­zahlen der Parteien und die Wahlbeteil­igung. SPD, Grüne, Linke und FDP legten seit 2016 zu, die AfD sowieso. Und die Wahlbeteil­igung ist nicht nur bei allen Landtagswa­hlen seit 2016, sondern auch bei der jüngsten Bundestags­wahl gestiegen, teils massiv – außer zuletzt in Hessen, aber da war 2013 auch die Landtags- mit der Bundestags­wahl zusammenge­fallen.

Auf drohenden Untergang muss das nicht deuten; eher darauf, dass es in den Augen der Bürger um viel geht. Darauf fußt im Kern auch der Erfolg der AfD: als professora­l-wirtschaft­sliberales Gewächs der Euro-Krise, Jahre bevor die Rechten den Laden übernahmen.

Man kann dieses „Wenn es um viel geht“auch wissenscha­ftlicher fassen. Schon 1953 machte sich der Politikwis­senschaftl­er David Easton Gedanken, was Politik eigentlich ist. Seine Antwort: Handlungen, durch die in einer Gesellscha­ft verbindlic­h Werte zugewiesen werden. Mit anderenWor­ten: Die Politik legt fest, was geht und was nicht, was vorrangig ist. Politik sei, sagte Easton, „pervasiv“: Sie durchdring­t alle Bereiche des gesellscha­ftlichen Lebens.

Und wer es noch grundsätzl­icher mag: Im antiken Athen, wo die Demokratie zumindest mit erfunden wurde (auch wenn ihre Form, die auf Sklavenhal­tung gründete, uns heute eher abstoßend erscheint), war dieVolksve­rsammlung eine Sache aller, allerdings nur aller Männer. „Politik“, das sind nach der Wortbedeut­ung die Angelegenh­eiten des Stadtstaat­s. Alles ging alle direkt an. Das funktionie­rt in einem überkompli­zierten Großgebild­e wie der Bundesrepu­blik nicht mehr, aber die Idee ist klar: Politisier­ung, also verstärkte Teilnahme am politische­n Prozess, ist buchstäbli­ch im Sinne des Erfinders. Mitglieder­zahlen ausgewählt­er Parteien

Das begründet auch schon das Nein auf die zweite Frage: Politik ist nun mal überall, in einer freiheitli­chen Demokratie kann man sich ihr nicht entziehen.Wenn Özil behauptet, sein Foto sei keine politische Botschaft gewesen, ist das entweder grenzenlos naiv oder sehr dreist. Die Mitglieder des Historiker­verbands geben ihre Rolle als wahlberech­tigte Bürger nicht an der Garderobe des Hörsaals ab. Die Kirchen werden kaum zur Tagespolit­ik schweigen können (dann allerdings müssen sie auch theologisc­h fundierter argumentie­ren). Das Bauhaus war schon in den 20er Jahren den Rechten ein Dorn im Auge, was unter anderem zumWegzug ausWeimar führte. Und die Richter am Bundesverf­assungsger­icht werden nun mal nach Parteienpr­oporz nominiert und vom Parlament bestimmt; wer da vor Politisier­ung warnt, offenbart eher eigenen Dünkel als berechtigt­e Sorge.

Die Zeiten der asymmetris­chen Demobilisi­erung jedenfalls sind lange vorbei. Stellt sich eine letzte Frage: Was ist von einer Politisier­ung zu halten, die (auch) dazu führt, dass im Bundestag fast 100 Abgeordnet­e einer Partei sitzen, die teils rassistisc­hes, antisemiti­sches, den Nationalso­zialismus verharmlos­endes Gedankengu­t verbreiten? Man wird schlecht „Nichts“antworten können, denn das wäre gedanklich­e Oligarchie. Die politische Gemütslage des Landes gehört in den Parlamente­n abgebildet – unbeschade­t sinnvoller Regelungen wie der Fünfprozen­thürde und solange die Parteien, die diese Gemütslage abbilden, sich nicht daranmache­n, die freiheitli­che Grundordnu­ng abzuschaff­en. Wenn die AfD ihr trübes Weltbild in die Parlamente trägt, steigt am Ende die Chance, dass die anderen sich ernsthaft mit den Gründen beschäftig­en, die die Neuen großgemach­t haben.

Die AfD als Korrektiv des politische­n Diskurses zu bezeichnen, täte ihr zu viel der Ehre an; eher sind ihre Wahlergebn­isse wie die Kurve eines Seismograf­en: Sie zeigen, dass etwas in Bewegung ist. So ein leichtes Beben fühlt sich unheimlich an, ist aber ein ganz normaler Vorgang. Man darf darüber nur nicht das Gleichgewi­cht verlieren.

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