Wolkenkuckucksheim Ratingen
Die Architektin Merete Mattern wollte aus der Siedlung Ratingen West die Stadt der Zukunft machen. Ihr ambitionierter Entwurf sorgte in den 1960er Jahren international für Aufsehen. Und wurde doch nicht verwirklicht.
de namhafte Landschaftsarchitekten, und gemeinsam mit den Eltern entwarf sie Siedlungen, die sich an ökologischen und anthroposophischen Prämissen orientierten. Mattern hatte ihr Diplom an der Technischen Universität Berlin für die Planung einer Konzerthalle bekommen, die sie als„Musikdom“begriff, als demokratischen Ort der Interaktion, an dem das Musik-Erleben den Rang eines Gesamtkunstwerks erlangen konnte.
Ihr erster großer Publikumserfolg wurde dann ihr Entwurf für Ratingen West. Wenn man sich das Modell heute ansieht, weiß man nicht genau, ob es eher an eine ausgebombte Stadt erinnert oder an die Kulisse für dikalen Architekturfantasie Strukturen sprengen“, sagt Oliver Elser. Sie wollte zu einem neuen Nachdenken über das Behaustsein anregen. Und natürlich wollte sie ihren Entwurf auch bauen, obwohl vieles daran eher skizziert als durchgerechnet war.
Ihre Häuser muten so eigenartig an, weil sie deren Struktur aus der Natur übernahm. Mattern ließ zum Beispiel hei
ßes Wachs in laufen. Und ihre Beobachtungen übertrug sie auf ihre Modelle. Gebaute Natur, das war ihr Leitmotiv.
Die Jury dürfte arg verblüfft gewesen sein über dieses Modell, das eher Kunstwerk denn Bauvorlage war. Man orientierte sich damals zumeist an der „Charta von Athen“, das heißt, man plädierte für die funktionale Trennung von Wohn-, Arbeits-, Freizeit- und Verkehrsbereichen. Man setzte bewusst Stadt und Land gegeneinan- die Urheberin. Tatsächlich wurde der Name Mattern auch durch RatingenWest zum Begriff in Fachkreisen. Die Zeitschrift „Bauwelt“publizierte den Entwurf sogar mehrfach, sie ließ Leser und Redakteure über fünf Ausgaben hinweg darüber diskutieren. Die Wochenzeitung „Die Zeit“stellte das Projekt vor, und auch in Frankreich wurde darüber berichtet.
Verwirklicht wurde schließlich keiner der für den Wettbewerb eingereichten Entwürfe. Der Stadtteil wurde durch hauseigene Architekten der Neuen Heimat gebaut – was von der deut- ten Entwürfe von damals auf, weiß Alexandra König. Es kombiniere bis zu 15-geschossige Wohnhäuser mit Einfamilienhäusern sowie die Anlage von Grünzügen in alle Himmelsrichtungen.
Merete Mattern betrachtete ihre Vision von Ratingen West als work in progress. Sie fertigte verschiedene Skizzen an, entwickelte ihre Gedanken immer weiter. Und auch das war Konzept, denn sie verstand lebendiges Bauen als Möglichkeit, Siedlungen stets den veränderten Bedürfnissen ihrer Bewohner anzupassen. Der Wohnraum konnte im Laufe der Jahre umgestaltet, das Ensemble der Häuser und Flächen neu sortiert werden. Sie betrieb Formfindungsstudien mit Frei Otto, dem Schöpfer der Zeltdach-Konstruktion des Münchener Olympiastadions. Mattern entwarf Projekte für Karlsruhe, München und die Solar City Fort Lincoln. Sie wirkte inspirierend auf ihre Zunft, sie war eine intellektuelle Rebellin, und das brachte ihr eine Gastprofessur an der Universität in Charlottesville in den USA ein.
Dort erkrankte Merete Mattern an einer schweren Lebensmittelvergiftung, deren Folgen ihr lange stark zusetzen. Seit den 1970er Jahren baute sie nichts mehr. Sie engagierte sich allerdings weiterhin für die ökologische Bewegung, schrieb einige Aufsätze und gehört zum Umfeld derer, die die Partei Die Grünen gründeten. Und sie nahm wohl auch am Gründungsparteitag in Karlsruhe teil.
2007 starb die Pionierin Merete Mattern. Sie ist die Frau, die aus Ratingen beinahe ein Wolkenkuckucksheim gemacht hätte.