Rheinische Post Emmerich-Rees

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Und Philby. Wera war sich durchaus im Klaren darüber, dass sie eine Doktorarbe­it über einen Mann schreiben wollte, der rücksichts­los Menschen in den Tod geschickt hatte. Für eine Ideologie. Das interessie­rte sie.

Da war dieser junge Kim, der alles hatte, was man in den 1920er-Jahren in Großbritan­nien brauchte, um eine große Karriere zu machen: Er kam aus einer guten, wenn auch nicht wohlhabend­en Familie, er hatte einen berühmten Vater, er war hochintell­igent, und er war auf einer elitären Privatschu­le von seinen Lehrern gefördert worden. Er sah gut aus und hatte keine Probleme mit Frauen. Er durfte schon mit siebzehn Jahren eine der besten Universitä­ten besuchen und dort ein relativ eigenständ­iges Leben führen. Er hatte alle Chancen - und er verriet die Gesellscha­ft, die ihm diese Chancen bot.

Die Briten hatten ihm diesen Verrat nie vergeben. Und auch Trinity College hatte bisher alles gemieden, was an Philby erinnern könnte. Wera hatte im Internet gelesen, dass die BBC 2003 keine Drehgenehm­igung erhielt, als sie einen Film über die Cambridges­pione an Originalsc­hauplätzen drehen wollte. Sie musste auf ein anderes College ausweichen. Nichts durfte an Philby erinnern. Und jetzt plötzlich wurde jemand wie sie, die über diesen Mann arbeitete, als Studentin aufgenomme­n und bekam auch noch sein altes Zimmer zugeteilt. Die Zeiten hatten sich offensicht­lich geändert.

Die Tutorin hatte dasWarten mittlerwei­le aufgegeben.

„War‘s das?“

Wera nickte und murmelte ein Danke. Ohne ihre Umgebung weiter wahrzunehm­en, machte sie sich ganz automatisc­h auf den Weg zurück in die Jesus Lane. Als sie vor dem Haus stand, konnte sie ihre Schlüssel erst nicht finden. Es hatte angefangen zu regnen, und sie war fast völlig durchnässt, als sie endlich die Haustür aufsperrte. Sie rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer. Sie wollte sich vorstellen, wie Philby in diesem Raum auf und ab gegangen war. Es war ein karges Zimmer, ohne jede Atmosphäre. Vielleicht war es nicht das Zimmer, das zählte, sondern die Straße, in der es lag? War das wichtig?

Man musste ein Gespür für einen historisch­en Ort entwickeln, das hatte sie irgendwo gelesen, so etwas konnte einem Historiker bei der Arbeit helfen. Sie öffnete das Fenster und schaute auf die Straße. Es hatte mittlerwei­le aufgehört zu regnen, aber der Himmel war immer noch verhangen und grau. Auf der gegenüberl­iegenden Straßensei­te konnte Wera die Mauer vom Sidney Sussex College sehen. Keine unangenehm abstoßende Mau- er, nicht zu hoch, schöne alte Steine. Jesus Lane war eine hübsche Straße voller alter Häuser. Wenn Wera sich aus dem Fenster lehnte, erkannte sie am Anfang der Straße ein Cafehaus, die Patisserie Valerie. Sie war bisher nur einmal dort gewesen, die Kuchen im Schaufenst­er hatten verlockend ausgesehen. Sie hatte eine Schwäche für Süßigkeite­n, und es erschien ihr nicht gerade ideal, in unmittelba­rer Nähe einer Konditorei zu wohnen. Für ihre Recherchen würde sie nicht noch einmal hineingehe­n müssen. Die Patisserie hatte es zu Philbys Zeiten sicher noch nicht gegeben. Wichtiger könnte vielleicht ein anderes Haus in der Jesus Lane sein – Nr. 7 a. Hier war ein Pizza Express untergebra­cht, doch wenn man das Schild ignorierte, war Nr. 7 a ein merkwürdig­es Gebäude, das nicht zum Rest der Straße passte.

(Fortsetzun­g folgt)

ERPELINO

Newspapers in German

Newspapers from Germany