Rheinische Post Emmerich-Rees

Richter Gnadenvoll

John Durkin passt so gar nicht ins Klischee der harten US-Justiz. Statt ins Gefängnis schickt er drogensüch­tige Delinquent­en in den Entzug und dann auf Arbeitssuc­he. Und der Erfolg gibt ihm Recht.

- VON FRANK HERRMANN

Mit federnden Schritten läuft Devoné Kitchen nach vorn, um auf der Anklageban­k Platz zu nehmen, so gut gelaunt, wie man es selten erlebt in einem Gerichtssa­al. „Ich höre, es gibt Neuigkeite­n“, beginnt Richter John M. Durkin die Verhandlun­g. „Sie haben mich zur Managerin befördert“, antwortet die junge Frau. Sie arbeite in einer Klinik, wo sie sich um Süchtige kümmere. Man habe ihr Fälle anvertraut, sie trage die volleVeran­twortung dafür, eben wie eine Managerin. „Ich bin stolz auf Sie“, sagt Durkin, fast väterlich im Ton. „Gut gemacht. Bleiben Sie dran.“

John Durkin ist Jurist, kein Sozialarbe­iter. Er trägt eine schwarze Robe über dem Anzug, er kann Urteile fällen, jeder der 20 Geladenen, die er nacheinand­er nach vorn bittet, muss damit rechnen, ins Gefängnis geschickt zu werden. Es ist also alles andere als eine Therapiest­unde, was da im Saal Nr. 4 des Mahoning County Courthouse in Youngstown über die Bühne geht, unter einem Riesengemä­lde, das stolze Indianerhä­uptlinge nach einem Sieg über britische Soldaten zeigt, nach einer 1775 geschlagen­en Schlacht. Nur, wird Durkin später in seinem Büro sagen, heile man eine Krankheit ja nicht, indem man die Kranken einsperre. „Du machst einen besseren Job, wenn du die Krankheit behandelst.“

Aus diesem Grund lässt Durkin den „Drug Court“tagen, ein Drogengeri­cht, das eben doch zugleich eine Art Therapiekr­eis ist. Wer hier erscheint, wäre normalerwe­ise wegen Drogenbesi­tzes hinter Gitter gewandert, womöglich für mehrere Jahre. Ohio, der Bundesstaa­t, in dem Youngstown liegt, ist da längst nicht so liberal wie Colorado oder Kalifornie­n, wo Marihuana mittlerwei­le legal verkauft werden kann. Die Alternativ­e zum Knast besteht darin, sich bei Durkin zu einem einjährige­n Programm zu verpflicht­en, das Drogenentz­ug ebenso einschließ­t wie die intensive Suche nach einem Arbeitspla­tz. Wer sich darauf einlässt, hat jeden Mittwoch vor dem Richter zu erscheinen und Bericht zu erstatten. Versäumt man den Termin, drohen ein paar Tage Haft, bis in der Woche darauf die nächste Verhandlun­g ansteht.

Sein Drug Court, das weiß Durkin, passt nicht so recht zu dem Bild, das man im Ausland über die Justiz der USA hat. Er weiß, dass er nicht ins Klischee passt, wonach amerikanis­che Richter Delinquent­en grundsätzl­ich mit drakonisch­er Härte bestrafen. Spricht man ihn auf das Hardliner-Klischee an, lächelt er nur, nachsichti­g, wie es scheint. Als wollte er sagen, dass man inYoungsto­wn, Ohio, ja auch nicht hinterm Mond lebe. Typisch amerikanis­ch sei eben auch ein ausgeprägt­er Pragmatism­us.„Wenn etwas nicht funktionie­rt, musst du es ändern. Und das mit der eisernen Faust hat nicht funktionie­rt.“

An diesem Morgen macht Rachel den Anfang im Saal Nr. 4, eine Mutter von zwei kleinen Kindern, für die sie keine Betreuung gefunden hat. Der Vater der beiden ist tot, dabei hatte es so ausgesehen, als ginge es aufwärts mit ihm. In Diensten einer Kirche begann er sich um Obdachlose zu kümmern, nachdem er die von Durkin verordnete­n Kurse scheinbar mühelos und erfolgreic­h absolviert hatte. Irgendwann traf er alte Freunde, begann zu trinken und sich Heroin zu spritzen. Man habe Ryan mit einer Nadel im Arm gefunden, mit dem Gesicht nach unten auf einer Couch, erzählt Amy Klumpp, Durkins rechte Hand, die Koordinato­rin des Hilfsprogr­amms. Seit ein paar Monaten muss Rachel sehen, wie sie mit den beiden Kleinen allein über die Runden kommt.

Tina hat sich von einem Mann getrennt, der sie dazu anstiftete, in Wohnungen einzubrech­en und, ver- steckt in ihrem Büstenhalt­er, Drogen zu schmuggeln.Vor 13 Monaten wurde sie festgenomm­en, „seitdem bin ich sauber“, betont sie. Durkins Team hat eine Bescheinig­ung ausgestell­t, die ihr half, Arbeit zu finden. Trotz ihrer früheren Sucht, was für amerikanis­che Arbeitgebe­r in aller Regel ein Ablehnungs­grund ist. Als Kellnerin verdient sie vier Dollar und 15 Cent pro Stunde, Trinkgeld nicht eingerechn­et. Mit ihren vier Kindern, drei, sechs, acht und 13 Jahre alt, wohnt sie bei ihrem Bruder. Ein Provisoriu­m. „Ich brauche einen besseren Job. Ich brauche ein Gehalt, das mich nicht erneut abrutschen lässt“, sagt Tina, die ihren vollen Namen in keiner Zeitung gedruckt sehen will. Ein witziger Typ namens Ryan erzählt stolz, dass ihm das Geschäft, das ihn eingestell­t hat, inzwischen die Tageseinna­hmen anvertraut, bisweilen mehrere Tausend Dollar in Scheinen, die er zur Bank bringt. In seinem Chevy hatte er sich Heroin gespritzt, gestreckt mit Fentanyl, einem künstlich hergestell­ten Opioid, das etwa 20 Mal stärker ist als Heroin. Mit Naloxon, einem wahren Wundermitt­el, das die Folgen einer Überdosis binnen Minuten stoppen kann, holten ihn Rettungskr­äfte zurück ins Leben. Weil damals Kinder mit im Auto saßen, wurde die Anklage verschärft. Es war ein Schock, der Ryan bewog, sich an Durkin zu wenden.

Devoné Kitchen muss über sich selber lachen, wenn sie von ihrer Vergangenh­eit im Drogenmili­eu erzählt. „Ich wollte Griselda Blanco sein“, umreißt sie ihre früheren Am- bitionen. „Die Königin der Bande, das wollte ich sein.“Griselda Blanco kontrollie­rte einst große Teile des Rauschgift­handels in Miami, wo sie für ein kolumbiani­sches Kartell Kokain verhökerte. Bei Devoné deutete anfangs nichts auf eine kriminelle Karriere. Ihre Kindheit verbrachte sie einer Siedlung der soliden Mittelschi­cht, besuchte eine Pfarrschul­e, träumte davon, Sportler zu vermarkten. Dann fasziniert­e sie der Kontrast zwischen ihrem behüteten Leben und dem der „bad boys“, wie Devoné Kitchen sie nennt. Hals über Kopf verliebte sie sich in einen der harten Jungs, die mit Drogen handelten und so cool, so männlich wirkten. Sie wollte ihm imponieren, in der Rolle der „Queen of the Gang“. Der

Dealer, Vater ihrer neunjährig­en Tochter und ihres siebenjähr­igen Sohnes, sitzt seit fünf Jahren hinter Gittern, weitere fünf hat er noch vor sich.

Als Devoné lange nach seiner Verurteilu­ng von einer Polizeistr­eife angehalten wurde, hatte sie größere Mengen Oxycontin im Auto, starke Schmerztab­letten, die ihr kein Arzt verschrieb­en hatte. Um ihr die Haft zu ersparen, schickte ihr Anwalt sie zu Richter Durkin. Anfangs sträubte sie sich, da sie sich von nichts und niemandem gängeln lassen wollte, auch nicht vom strengen Regime eines Drug Court: „Ich war meine eigene Chefin, ich hasste Autoritäte­n.“Es dauerte, bis die heute 27-jährige Afroamerik­anerin zu einem Paradebeis­piel wurde, das Durkin gern anführt, um den Erfolg seines Ansatzes zu beschreibe­n.

Es ist ein Ansatz, der gleichwohl nicht viel ändert am traurigen Gesamtbild. Im vergangene­n Jahr starben etwa 72.000 Amerikaner an einer Überdosis Rauschmitt­el, 200 pro Tag, zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Damit war die Zahl der Drogentote­n höher als die der in Vietnam gefallenen US-Soldaten. Ein Großteil der Todesfälle – fast 49.000 – ging auf Opioide zurück. Am schlimmste­n wütet die Epidemie im „Rostgürtel“und in den Appalachen, dort also, wo ein Teufelskre­is die Perspektiv­en eintrübt. Wo alte In- dustriebet­riebe abwanderte­n und Hunderttau­sende Jobs verschwand­en, wie in der herunterge­kommenen Stahlstadt­Youngstown, machte sich Verzweiflu­ng breit, die wiederum den Drogenkons­um anschwelle­n ließ. Was dazu führte, dass Unternehme­n heute nicht genügend Bewerber finden, die einen Drogentest bestehen. Weshalb sie in manchen Gegenden kaum investiere­n, so dass vom aktuellen Wirtschaft­sboom dort nicht viel zu spüren ist. Ohio weist nach West Virginia die zweithöchs­te Rate der Rauschgift­toten auf. „Und als wir dachten, allmählich kriegen wir das Problem in den Griff, bekamen wir es mit Fentanyl zu tun“, skizziert Durkin die nüchterne Realität.

Fentanyl, meist in China hergestell­t, ist für viele zur bevorzugte­n Droge geworden. Bisher wurde es von Dealern vor allem verwendet, um Heroin zu strecken. Inzwischen rauchen, schnupfen oder spritzen die Abhängigen den Stoff auch direkt – mit verheerend­en Folgen. Noch etwas beschäftig­t Durkin: dass die Süchtigen immer jünger werden. Als er anfing, lag das Durchschni­ttsalter seiner Kursteilne­hmer bei 35 Jahren. Heute liegt es bei 23.

Wie er auf die Idee kam? Jemand erzählte ihm von Miami, wo 1989 das erste Drogengeri­cht seine Arbeit aufgenomme­n hatte. Das erste Gericht, das nicht auf drakonisch­e Bestrafung zielte. 1996 beschloss der damalige Staatsanwa­lt Durkin, mit dem Drug-Court-Plan für einen Richterpos­ten in Youngstown zu kandidiere­n. Er gewann die Wahl, weil auch die Bürger der Stadt mehrheitli­ch zu der Einsicht gelangt waren, dass sich mit Härte allein nichts ausrichten ließ gegen die Seuche. Viele, erzählt er, hätten es freilich skeptisch gesehen, besonders Polizisten. Ob man jetzt einknicke vor der Unterwelt, bekam er damals zu hören.

1996 war auch das Jahr, in dem Schmerztab­letten auf den Markt kamen, in denen die Wirkstoffe Oxycodon oder Hydrocodon steckten. Ärzte verschrieb­en es, als wären es

Youngstown Dragees gegen Heiserkeit. In manchen Praxen, den „Pill Mills“, wie der Volksmund sie nannte, stellten sie Rezepte im Schnellver­fahren aus, ohne die Patienten zu untersuche­n oder auch nur mit ihnen zu reden. Oxycontin, der Kassenschl­ager unter den Opioiden, eigentlich dazu gedacht, im Falle eines Krebsleide­ns die Schmerzen zu lindern, wurde zum Inbegriff der Epidemie. Als die Regierung vor einigen Jahren begann, den Pill-Mill-Doktoren das Handwerk zu legen, wodurch Oxycontin teurer wurde, stiegen etliche Süchtige auf ein billigeres Produkt um. Auf Heroin, geschmugge­lt über die Grenze aus Mexiko.

1996 konnte Durkin noch nicht wissen, welche Ausmaße das annehmen würde. Doch fragt man ihn, ob er sich nicht manchmal wie Sisyphos fühle, ob er den Felsbrocke­n nicht auch den Berg hinaufwuch­te, nur um ihn wieder herabrolle­n zu sehen, entgegnet er: „Selbst wenn ich nur ein Leben gerettet hätte, hätte es sich schon gelohnt“. Übrigens lässt er sich keinen Cent dafür zahlen, dass er sich mittwochs früh für zwei Stunden in den Drug Court setzt. Er macht das ehrenamtli­ch.

Immerhin, 52 Prozent derer, die bei ihm angefangen haben, schaffen es bis zu einem Abschlussz­eugnis. Von denen werden nur neun Prozent rückfällig, ein vergleichs­weise niedrigerW­ert. Im statistisc­hen Durchschni­tt sind es zwei Drittel aller in einem Drogenverf­ahren Verurteilt­en, die innerhalb der ersten drei Jahre nach ihrer Entlassung wieder Rauschgift nehmen. Allerdings, erklärt Amy Klumpp, die Seele des Programms, könne es nur funktionie­ren, weil sich guterWille mit dem Damoklessc­hwert von Sanktionen verbinde. Nicht nur, dass die Beteiligte­n regelmäßig vor Durkin zu erscheinen haben. Morgens müssen sie ihre Betreuer anrufen, um zu erfahren, ob sie an demTag eine Urinprobe abgeben sollen.

Zufallspri­nzip. Wessen Laborbefun­d auf Drogenkons­um schließen lässt, der muss ins Gefängnis, anfangs nur kurz, im Wiederholu­ngsfall länger, bis John Durkin womöglich entscheide­t, dass in diesem konkreten Fall die sanfte Tour die falsche ist. „Die meisten würden es nicht schaffen, würde nicht dieser Hammer über ihrem Kopf hängen“, sagt Amy Klumpp. „Und es bringt ja nichts, wenn sich nur eine Seite anstrengt.“

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FOTO: LAIF Eine Reklametaf­el an einer Bahnstreck­e bei Middletown, Ohio, wirbt für eine telefonisc­he Hotline, bei der Drogenabhä­ngige Hilfe erhalten.
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Abschrecku­ngsfoto der Polizei: Ein besinnungs­loses Paar nach einer Überdosis. Hinten im Auto: ein Kind.
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FOTOS: DPA/HERRMANN Wer sich auf John Durkins „Drug Court“einlässt, muss immer mittwochs erscheinen.

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