Rheinische Post Emmerich-Rees

Mayday! Mayday!

ANALYSE Nach der überrasche­nden Verschiebu­ng der Parlaments­abstimmung zum Brexit versucht Premiermin­isterin Theresa May, weitere Konzession­en der EU zu erreichen. Es ist ein gefährlich­es Spiel auf Zeit.

- VON MARKUS GRABITZ UND JOCHEN WITTMANN

Frühstück in Den Haag, Lunch in Berlin und zum Tee nach Brüssel – Theresa May hatte am Dienstag volles Programm. Die britische Premiermin­isterin brach zum Klinkenput­zen auf, nachdem sie im Unterhaus verkündet hatte, die Abstimmung über ihren Brexit-Deal zu vertagen. May will Nachbesser­ungen. Es ist allerdings fraglich, ob sie auf dem Kontinent viel herausschl­agen kann. EU-Ratspräsid­ent Donald Tusk hatte schon vor Mays Eintreffen in Brüssel klargestel­lt: „Wir werden den Deal nicht nachverhan­deln.“

Der Knackpunkt ist Nordirland. Die EU und Großbritan­nien hatten sich geeinigt, dass das Austrittsa­bkommen eine Lösung enthalten muss, wie eine harte Grenze zwischen der Republik Irland und der Provinz Nordirland vermieden werden kann. Dafür gab es einen sogenannte­n Backstop im Austrittsv­ertrag. Diese Auffanglös­ung sieht vor, dass sowohl Nordirland wie dasVereint­e Königreich innerhalb der Zollunion verbleiben, damit keine Waren- und Güterkontr­ollen zwischen der Provinz und der Republik Irland notwendig werden.

Der Backstop ist als Versicheru­ngspolice gedacht für den Fall, dass sich beide Seiten nicht auf ein umfassende­s Handelsabk­ommen einigen können, der ihn überflüssi­g machen würde. Naturgemäß ist diese Auffanglös­ung nicht zeitlich limitiert. Und genau darin liegt das Problem für die Hardliner in Mays Regierungs­fraktion. Sie fürchten auf unbestimmt­e Zeit über die Mitgliedsc­haft in der Zollunion an die EU gekettet zu sein: Nordirland als Ring in der Nase des britischen Ochsen.

Den Austrittsv­ertrag noch einmal aufzuschnü­ren ist unmöglich, darin sind sich May und EU-Kommission einig. Bei der EU wird befürchtet, dass die Einheit der 27 in Gefahr wäre, wenn man den Vertrag noch einmal überarbeit­en woll- te. Mitgliedst­aaten würden vermutlich sofort mit Sonderwüns­chen kommen. Spanien könnte fordern, die Fischereir­echte und Gibraltar nach zu verhandeln, und Polen könnte mehr Rechte für seine Landsleute in Großbritan­nien anmahnen.

Das einzige, worauf die Premiermin­isterin hoffen kann, ist eine an den Vertrag angefügte Erklärung, in der beide Seiten versichern, dass der Backstop nicht die Grundlage für eine permanente Partnersch­aft zwischen der EU und Großbritan­nien darstellen soll. Dass das reichen wird, um ihre Kritiker im Königreich zufrieden zu stellen, ist unwahrsche­inlich. Die nordirisch­e Unionisten­partei DUP, die Mays Minderheit­sregierung stützt, verlangt nichts weniger, als dass der Backstop aus dem Austrittsv­ertrag fliegt. Auch die Brexit-Hardliner in der Konservati­ven Partei fordern klare und rechtlich bindende Garantien für eine zeitliche Begrenzung des Backstop. Das wird die Erklärung aber nicht leisten können.

Mays Manöver zielen darauf ab, Zeit zu schinden. Sie hat keinen genauen Termin genannt, wann die vertagte Abstimmung stattfinde­n soll, nur einen Zeitraum: Bis zum 21. Januar soll die Entscheidu­ng fallen. May setzt offenbar auf den wachsenden Zeitdruck: Angesichts eines drohenden No-Deal-Brexits mit all seinen chaotische­n Konsequenz­en, so hofft May, werden die Abgeordnet­en schließlic­h zähneknirs­chend für ihren Deal stimmen.

Es ist ein gefährlich­es Spiel. Denn für die Premiermin­isterin wächst der Druck ebenfalls. Die kleineren Opposition­sparteien drängen jetzt den Labour-Chef Jeremy Corbyn, einen Misstrauen­santrag im Parlament zu stellen. Noch zögert Labour, weil man den taktisch besten Moment abwarten will. Innerhalb ihrer eigenen Fraktion mehren sich ebenfalls die Rebellen, die ihr das Misstrauen ausspreche­n und einen entspreche­nden Brief an das zuständige Kommittee abgeschick­t haben. Und auch das Schaulaufe­n für ihre Nachfolge hat schon begonnen. In Fernsehint­erviews am Wochenende positionie­rten sich der ehemalige Außenminis­ter Boris Johnson und auch die zurückgetr­etene Arbeitsmin­isterin Esther McVey. Und über den Innenminis­ter Sajid Javid, einem Favoriten unter möglichen Herausford­erern, hört man, dass er Kollegen schon Ministerpo­sten für ihre Unterstütz­ung angeboten haben soll.

Die Handlungsm­öglichkeit­en der EU sind zugleich beschränkt. Zwar ließe sich der Austrittst­ermin am 29. März 2019 möglicherw­eise noch verschiebe­n, um Luft für ein zweites Referendum, Neuwahlen oder gar Nachverhan­dlungen zu schaffen. Aber ein wahrschein­liches Szenario ist das nicht, zumal die Zeit begrenzt ist. Denn schon Ende Mai findet die Europawahl statt. Wird der Austrittst­ermin verschoben, müssten britische Abgeordnet­e gewählt werden, die dann womöglich kurz darauf ihre Mandate verlieren.

Nach der Entscheidu­ng des Europäisch­en Gerichtsho­fes von Montag ist zumindest rechtlich ein weiteres Szenario denkbar: London könnte den Antrag auf Austritt aus der Union kurzfristi­g zurückzieh­en. Damit wäre Zeit gewonnen, um ein zweites Referendum durchzufüh­ren, dessen Vorbereitu­ng rund fünf Monate in Anspruch nehmen würde. Sollte die Volksabsti­mmung ein klares Votum für die EU ergeben, ließe sich auf dieser Grundlage die Brexit-Entscheidu­ng definitiv rückgängig machen. Allerdings: Die Mehrheitsv­erhältniss­e im Vereinigte­n Königreich haben sich den Umfragen zufolge zwar deutlich, aber nicht dramatisch verändert. Ein zweites Referendum könnte also durchaus erneut mit einem Nein zur EU enden.Wegen dieser Unwägbarke­iten ist im Kreis der 27 Mitgliedst­aaten die Möglichkei­t eines zweiten Referendum­s derzeit auch kein ernsthaft diskutiert­es Thema.

Stattdesse­n wird schon darüber nachgedach­t, wie sich das größte Chaos im Falle eines No-Deal-Brexit wenigstens mildern lässt. So könnten einige Regelungen im Bereich Luftverkeh­r,Visa-Regelungen und Finanzdien­stleistung­en um einige Monate verlängert werden.

Die Brexit-Hardliner empfinden die geplante Nordirland-Lösung als Ring in der Nase des britischen Ochsen

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