Rheinische Post Emmerich-Rees

Heilige Nacht

-

Nichts auf dieser Fahrt bereitet einen auf die Welt hinter der Tür vor. Nicht einmal darauf, dass dort überhaupt eine Welt ist. Der asphaltier­te Feldweg, nachlässig geflickt, wird auch am Abend des 22. Dezembers von der Bundesstra­ße zunächst in die Dunkelheit führen. Licht aus ein paar Bauernhof-Fenstern, kahle Felder. Sollte Nebel über der niederrhei­nischen Ebene liegen, wird höchstens das beleuchtet­e Bushäusche­n vomWagen aus zu sehen sein, auf der Vorderseit­e aus Plastik klafft ein riesiges Loch. Dann steht ein Auto am Straßenran­d, dahinter noch eines und noch eines und noch eines und noch eines. Junge Leute gehen über eine Auffahrt zu einer Scheune, dann durch die grüne Tür hinein. Es wird warm. Sie sind zu Hause.

Drinnen stehen ihre Leute zusammen, die mit den Bärten und den Skaterschu­hen und dem Festivalbä­ndchen ums Handgelenk. An der Theke in der Ecke bekommen sie ihr Bier. Gleich wird wieder eine Band auf die kleine Bühne gehen und die Hits spielen, die nur sie kennen. Statt nach Waffeln riecht es diesmal nach Paninis, aber sonst ist es wie im

Jahr davor und in dem davor. Mit sich im Reinen sein. Wenigstens einen Abend lang.

Und irgendwo wird Arndt stehen mit einem Gesichtsau­sdruck, der weder Zweifel an seiner Ernsthafti­gkeit noch an seinem zuversicht­lichen Wesen lässt. Nicht mal er würde bestreiten, dass es das ohne ihn alles nicht gäbe. Dass sich jedes Jahr kurz vor Weihnachte­n mehr als hundert Menschen in einer Scheune zwischen Goch und Kalkar wiedersehe­n. Menschen, die im äußersten Fall die 30 gerade überschrit­ten haben, aber an diesem Abend weit zurückreis­en. In die Zeit, als die Dinge, die man liebte, und die Dinge, die man tat, noch unbedingt dieselben zu sein hatten.

Ohne Arndt kommt deshalb diese Geschichte nicht aus vom Aufwachsen in der Provinz, vom Bands gründen, den Träumen und dem Leben danach. Im Nachhinein vollkommen logisch, dass genau er mit Musik die Menschen zusammenbr­ingen würde. Jahrgang 1987, Uedem, Kreis Kleve. Wenn seine Eltern im Auto die schwarze Kassette mit „Peter, Paul And Mary“reinschobe­n, sangen er und seine Geschwiste­r mit und weil sie noch kein Englisch konnten, dachten sie sich deutsche Texte aus. Zuhause liegen die Beatles auf dem Schallplat­tenspieler. So wie andere beschließe­n, sich Mopeds zu kaufen, kommt Arndt in der siebten Klasse mit ein paar Freunden auf die Idee: Lasst uns mal Instrument­e besorgen und eine Band gründen. Er singt. Bis die Gitarriste­n aussteigen. Arndt übernimmt aus Mangel an Alternativ­en. Ein guter Gitarrist wird er niemals werden. Ist aber auch nicht so wichtig, die Applethorn­s spielen Britpop. Arndt findet: „Es geht nicht darum, was jemand kann, sondern was er liebt.“

Die Applethorn­s proben nach Ladenschlu­ss im Keller eines Baumarktes. Die Alarmanlag­e ausstellen, durch die Gänge laufen. Einmal klettern sie aufs Dach, kiffen, klettern wieder zurück und entdecken Überwachun­gskameras.Würden sie nun aus dem Proberaum fliegen? Die Kameras sind dann doch nur Bewegungsm­elder.

Allmählich verändert sich für Arndt die Bedeutung von Musik. Das ist nicht mehr wie Mofafahren, sondern eine Notwendigk­eit, um zu verarbeite­n, was ihm widerfährt. Er schreibt lieber einen Song, in dem er einem Mädchen seine Liebe gesteht, als dass er zu ihr hingeht. Zimmer und Dachboden werden zu seinem Studio. Kassettenr­ekorder, Laptop, Gitarre. Hoffentlic­h brettert im Moment der Aufnahme kein Lastwagen vorbei. Teure Technik interessie­rt ihn nicht. Weil er noch immer nicht so viel auf der Gitarre kann, muss er sich beschränke­n. Strophe, Refrain, Strophe. Melodie, Melancholi­e und Stimme.

Arndt nennt sich fortan „From Major To Minor“, die anderen Musiker begleiten ihn nun eben bei Konzerten. Auf seinerWebs­eite schreibt er: „Vielleicht fängt man auch ein bisschen deswegen an, Musik zu machen. Weil man eigentlich lieber in Berlin, London oder mindestens Hamburg leben

Konzerte von „Kein Platz für Konzerte“sind auch immer ein Fest der Freundscha­ft. Menschen sehen sich dort nicht nur wieder, sie lernen sich auch kennen. Philipp trifft die Frau, für die er später nach Berlin ziehen wird. Musiker gründen neue Bands. Das ist kein Bandwettbe­werb, wo der eine dem anderen nichts gönnt. Das ist eine Familie, in der alle möglichen Musiker einen Platz finden.

Christian, der schon im Kindergart­en Gitarre spielen will, weil die Kindergärt­nerin das auch macht. Doch erst mal darf er nur in den Glockenspi­elkurs. Matthias, der noch weiß, an was er mit neun Jahren baute, als er zum ersten Mal „Appetite For Destructio­n“von Guns n‘ Roses hörte, nämlich an der Polizeista­tion von Lego. Gerrit, der seine Schulzeit im Jugendzent­rum verbringt und im Proberaum, einem Hühnerstal­l mit Blut und Kacke an denWänden. Lieber übernachte­t er dort als zuhause, weil es da Stress gibt. Alle haben dort einen Platz. Im März 2016 erfahren sie, dass es diesen Platz nicht mehr geben wird, nach mehr als 50 Konzerten. „Auszeit!“überschrei­ben die Veranstalt­er den Eintrag auf der Webseite. „Wir vier wohnen mittlerwei­le an vier verschiede­nen Orten. Im Moment reicht die Zeit einfach nicht mehr richtig aus.“

Von dieser Auszeit sind sie bis heute nicht zurückgeke­hrt. Alle Entwicklun­gen liefen gegen sie. Nicht nur, dass ihre Zuschauer zum Studieren und Arbeiten an alle möglichen Orte gezogen sind. Nicht nur, dass sich Bands aus demselben Grund auflösten und keine neue Bands nachkamen, weil junge Leute nicht mehr in dem Ausmaß Bands gründen. Nicht nur, dass viele Kneipen dicht sind, in denen sie Konzerte gegeben haben. Auch ihr Leben hat sich verändert. Philipp ist jetzt Kindergärt­ner, Willi arbeitet in Köln fürs Fernsehen. Flo hat sein Philosophi­estudium nach dem Bachelor geschmisse­n, studiert Musik in Enschede.

Bei Arndt ist es noch mal anders. Musikmache­n und Konzertver­anstalten verlieren nicht nur an Bedeutung, weil er Logopäde wird und nach Krefeld zieht. Da ist noch seine Freundin, die ihm zeigt, dass es neben der Musik noch was anderes gibt. Er hat dieses größte aller Gefühle ja oft genug besungen. Über den ersten Kuss auf einem Konzert der Musikerin Feist wird er in einem Song singen: „My heart was louder than the voice of the Canadian girl.“2013 veröffentl­icht er sein letztes Album. Ihm ist passiert, was einem Singer/Songwriter nicht passieren darf: Er ist glücklich. 2018 heiraten sie und feiern in und vor der Scheune. Die Gäste sind beinahe dieselben wie auf den Konzerten.

Doch ein Konzert können Arndt, Philipp, Flo und Willi nicht begraben. Das Weihnachts­konzert ist heilig. Als es 2017 in Gefahr ist, weil aus der Scheune eineWohnun­g werden soll, bieten mehrere Leute ihre eigene Scheune an. „Bevor das aufhört, kommt zu mir nach Hause.“

Sie und die anderen kommen vom Konzert nicht los. So richtig kommen sie auch vom Musikmache­n nicht los. Auch wenn niemand so viel Zeit hineinstec­kt wie Flo, der sein Studium in wenigen Wochen beenden wird.Willi trommelt unregelmäß­ig in zwei Bands. Arndt sagt, es gebe From Major To Minor, solange es ihn gebe. Kürzlich hat er wieder mehrere Konzerte gespielt. Am Schlagzeug saß Mathis, der seit der siebten Klasse hinter ihm am Schlagzeug sitzt und nun Lehrer ist. Matthias arbeitet in einem Tonstudio auf Mallorca. Gerrit arbeitet tagsüber in einem Autohaus, die restliche Zeit spielt er in einer Metalband und Coversongs auf Hochzeiten. Arndts Bruder ist nach Berlin gezogen, des Jobs wegen. Er schreibt noch immer Lieder, weil er weiß, dass es ihm danach besser geht als vorher.

In Berlin wohnt auch Malte, der Junge von„Warum eigentlich Champagner“. Malte macht kaum noch Musik, er macht heute was mit Social Media. Aber wenn, dann spielt er seiner Tochter was auf der Akustikgit­arre vor.

Info Das Konzert ist am 22. Dezember, Beginn 20 Uhr, Landwehrst­raße 120, Goch-Pfalzdorf. Eintritt: 4 Euro. Mit: From Major To Minor, Soul Kiss und Fairytale For Fred

 ?? F O T O : K P F K ?? Die Band „The Great Faults“spielt ein Konzert in der Weihnachts­scheune.
F O T O : K P F K Die Band „The Great Faults“spielt ein Konzert in der Weihnachts­scheune.

Newspapers in German

Newspapers from Germany