Cambridge 5 – Zeit der Verräter
Natürlich hatten sie Sex, mit wem auch immer. Aber es war so bequem, in ihrer Homosexualität eine Erklärung zu finden. Weil man ja die eigentliche Erklärung nicht sehen wollte. Weil keiner innerhalb des britischen Establishments glauben konnte, dass man dieses fantastische Establishment verrät. Übrigens ist diese Blindheit keine typisch britische Eigenschaft. Die Russen waren genauso beschränkt, wenn es um ihre Verräter ging. Als der berühmteste von ihnen, Poliakoff, enttarnt wurde, konnte es niemand fassen – ein Held des Zweiten Weltkriegs, hochdekoriert, ein Vorzeigekommunist, und er hasste das System? Es wird nicht gefragt: ,War etwas am System defekt?’, es wird gefragt: ,Was war an dem Mann defekt?’
„Sie sind also der Ansicht, dass die britische Gesellschaft defekt war?“
„Natürlich nicht im gleichen Ausmaß wie in der Sowjetunion! Doch sie war marode. Bis weit in die Fünfzigerjahre hinein.“
„Aber dass Philby so lange als Spion arbeiten konnte, lag doch auch amVersagen der Geheimdienste, am Versagen des MI6?“
Hunt nickte. „Ja, es war der mangelnde Frühjahrsputz.“
Wera schaute ihn verständnislos an. „Frühjahrsputz?“
„Das kennen Sie nicht mehr? Jede Hausfrau hat damals einen Frühjahrsputz gemacht. Im Mai wurde all der alte Plunder rausgestellt und begutachtet. War da was zu reparieren? Brauchte man das Zeug noch? Eine Entrümpelung bot einen Neuanfang. Die britischen Nachrichtendienste putzten nicht. Da wurde nie aufgeräumt. Die waren so von sich überzeugt, dass sie sich nicht hin- terfragten und kein ernsthaftes Kontrollsystem einbauten. Alles verlief auf freiwilliger Basis. Wenn ein Mitarbeiter glaubte, sich erpressbar gemacht zu haben, weil er seine Ehefrau mit dem Kellner oder der Kellnerin betrogen hatte, chronisch trank oder Spielschulden hatte, konnte er das melden. Wer bei klarem Verstand war, tat das natürlich nicht. Es wurde also nie eine Hausreinigung unternommen. Sie müssen sich das vorstellen wie in einer schlechten Ehe. Man dachte nicht mehr nach, man machte weiter, weil es bequem war.
Man fragte nicht: ,Reden wir noch über etwas anderes als die Kinder?’
Wera versuchte, angesichts dieses gewagten Vergleichs nicht überrascht auszusehen. Sie konnte sich Hunt nicht als Ehemann und Vater vorstellen.
„Halten Sie Philby für einen Verbrecher?“
„Der Mann war ein Massenmörder. Es geht ja nicht nur darum, wie viele Agenten seinetwegen draufgegangen sind. Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Es ist etwas anderes. Wenn Ihr Gegner all Ihre Geheimnisse kennt, sind Sie schutzlos. Philby hat uns in diese Lage gebracht. Das hat Großbritannien Millionen gekostet. Es war Geld, das wir nicht in die wirklich wichtigen Dinge investieren konnten – in Krankenhäuser, Wohlfahrtsbau, Arbeitslosenhilfe. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Als der Koreakrieg 1950 ausbrach, wusste die Sowjetunion dank der Cambridge Fünf fast alles über unsere geheimen Operationen. Wir standen nackt vor ihnen. Großbritannien hatte zu diesem Zeitpunkt kaum Geld, es hatte gerade den Zweiten Weltkrieg mit einem Schuldenberg überstanden. Wir mussten all das Geld, das wir in Wohlfahrtsprogramme stecken wollten, wieder in die Rüstung geben, um bei diesem Scheißkrieg nicht zu verlieren. Ein reiches Land wie Amerika kann sich solche Kriege leisten, aber wir nicht. Haben Sie sich mal überlegt, wie viele alte Leute im Winter 50/51 erfroren sind, weil sie keine Heizkostenhilfe bekamen, oder für wie viele Frühgeborene kein Brutkasten angeschafft werden konnte? Dieser Krieg hat uns noch mal um Jahre zurückgeworfen. Philbys Verrat hat ganz einfache Leute getroffen, Leute, die nichts mit Politik zu tun hatten.“
„Wieso ist Großbritannien überhaupt in den Koreakrieg gezogen?“
„Googeln Sie es!“, sagte er ungeduldig. „Aber ohne diesen ganzen Kontext sind Philbys Verbrechen nicht zu verstehen. Die Cambridge Fünf haben Menschen in den Tod geschickt und sind dafür nie bestraft worden. Im Fall von Anthony Blunt war das natürlich auch eine Klassenfrage. Der Mann war ein Freund von König Georg VI., so jemanden sperrt man nicht einfach weg. Ein anderer Spion der Russen, George Blake, hat eine hohe Haftstrafe bekommen. Aber der stammte natürlich aus einfachen Verhältnissen und war ein halber Ausländer. Der hat nie dazugehört. Noch einmal: Man muss die englische Gesellschaft zu dieser Zeit kennen, um das alles zu verstehen. Das Establishment war ein einziges engmaschiges Netzwerk. Wenn man da drin war, hatte man absolute Protektion. Selbst als es schon an allen Ecken brannte, hat dieses Netzwerk die Cambridge Fünf nicht outen wollen. Das hätte das schwankende Gerüst des Establishments zum Einsturz bringen können.“
„Philby hat die Regeln des Establishments genutzt, um es zu unterwandern?“, fragte Wera.
„Natürlich! Er hat sich bestimmt totgelacht über diese Idioten, die glaubten, er wäre ein braver Karrierist, der sich nach allen Regeln der Kunst an die Spitze des MI6 antichambriert. In Wirklichkeit war er ein Krimineller.“
„Aber bringt das nicht der Beruf der Spionage mit sich, dass man kriminelle Dinge tut? Alle Agenten bewegen sich in juristischen Grauzonen. Was ist mit uns? Dem Westen? Waren wir denn besser?“
Hunt machte sich jetzt an ein Scone mit viel Creme. Es schien ihm nichts auszumachen, dass es außergewöhnlich fettreich aussah. „Ist das eine ernsthafte Frage?“Er wartete ihre Antwort nicht ab und stand auf, um sich noch etwas Marmelade zu holen. Wera ahnte, dass er das Interesse an dieser Unterhaltung verlieren könnte. Sie hatte mittlerweile verstanden, wie schnell er gelangweilt war, wenn man ihm nichts Anregendes bot.
Sie beobachtete ihn, wie er an der Theke stand. Seine Augen erinnerten sie an David, aber das war sicher nur Zufall. Ihr fiel ein, dass sie noch Kopien aus dem Churchill-Archiv hatte. Vielleicht würde ihn das interessieren. Als er zurückkam, legte sie den Stapel Papiere neben seinen Teller.
„Ich war mit David in den Churchill-Archiven . . .“
Hunt schien interessiert. „Sie haben die Mitrochin-Papiere gesehen? Ich dachte, Sie können kein Russisch?“
„David kennt eine Übersetzerin, die uns hilft.“
(Fortsetzung folgt)