Rheinische Post Emmerich-Rees

Cambridge 5 – Zeit der Verräter

- Von Hannah Coler

Hunt schaute sie an. Sein Körper straffte sich jetzt, und einen Moment lang hatte sie Angst, er würde auf sie losgehen. „Sie können keine Übersetzer­in beschäftig­en! Das ist nicht zulässig für Doktorande­n. Sie müssen Ihre eigene selbststän­dig erbrachte Arbeit präsentier­en, nicht etwas Erkauftes!“

Das Wort „Erkauftes“brüllte er fast. Wera war von seiner Reaktion so entsetzt, dass sie am liebsten sofort aus dem Kaffeehaus gerannt wäre. Aber sie wollte nicht das kleine, heulende Mädchen sein, das keine Kritik vertragen konnte.

„Sie ist nur eine Freundin.“Ihre Stimme war wieder viel zu hoch geworden. Hunt schien es nicht zu bemerken.

„Das ist völlig egal! Das ist so typisch für Ihre Generation! Sie wollen alles schon vorgeferti­gt haben, sich nicht selbst auf die Suche machen, recherchie­ren, einen Weg finden, um an Material zu kommen. Nur so wird man ein guter Historiker! Sie müssen sich das selbst erarbeiten. Ohne fremde Hilfe!“

Er hatte den letzten Satz gespuckt. Ein paar Leute drehten sich jetzt nach ihnen um. Hunt war in diesem Land ein Fernsehsta­r, der öfters erkannt wurde. Dass man sie beobachtet­e, war Wera bis dahin nicht weiter aufgefalle­n. Erst jetzt bemerkte sie, wie nah eine Dame am Nebentisch an sie herangerüc­kt war. Sie sah älter aus und war sicher ein harmloser Fan von Hunt, aber abgesehen von ihr war Starbucks voll von jungen Leuten. Wenn Studenten unter ihnen waren, konnte das unangenehm werden. Irgendeine­r twitterte sicher schon: „Professor Hunt macht Studentin in Star- bucks fertig.“

Auch Hunt schien sich jetzt bewusst zu sein, dass aller Augen auf sie gerichtet waren. Er lachte, als ob Wera einen wunderbare­n Witz gemacht hätte. Mit betont ruhiger Stimme fragte er: „Und, was haben Sie sonst noch für mich?“

Sie war von der Schnelligk­eit seines Stimmungsw­echsels wieder einmal überrascht. Woher wusste er, dass sie mitspielen würde? Sie versuchte betont langsam zu atmen. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal wie eine hyperventi­lierende Maus klingen.

„Ich habe in den National Archives . . . eigenständ­ig . . . die wenigen Akten eingesehen, in denen Philby vorkommt. Es sind nur MI-Akten freigegebe­n, nichts vom Auslandsge­heimdienst MI6. Und selbst die MI-Akten sind stark zensiert.“

„Schauen Sie sich NigelWests Editionen dazu an. Er hat zumindest Auszüge aus den russischen Akten bekommen.“

„Ja, die habe ich schon gesehen. Aber die MI-Akte über Philbys Vater ist interessan­t. Ist Ihnen die Beziehung zu seinem Vater aufgefalle­n?“

Hunt schaute sie jetzt zum ersten Mal wieder etwas freundlich­er an. „Die Väter sind der Schlüssel.“

1. November 2014, Weras Zimmer 8 Jesus Lane Cambridge

Wera saß wieder in ihrem Kim-Philby-Zimmer und ging ihre Gesprächsn­otizen durch.Was meinte Hunt mit dem Satz„dieVäter sind der Schlüssel“?Wieso gebrauchte er den Plural?

Vielleicht meinte er damit so etwas wie Kim Philbys geheimeWah­lverwandts­chaften? Das könnte passen, denn Kim hatte sich tatsächlic­h mit Anfang zwanzig eine Art Ersatz- vater ausgesucht. In gewisser Weise hatte er damit zweiVäter gehabt - einen biologisch­en und einen wahlverwan­dtenVater. Natürlich wusste Kims biologisch­er Vater nichts von seinem Konkurrent­en. Er hätte seinem Sohn niemals einen derartigen Umgang erlaubt, denn dieser Mann war der Albtraum aller Eltern. Sein Name lautete Arnold Deutsch.

Es war Deutsch zu verdanken, dass Kim zu einem der besten Spione seiner Zeit wurde. Wera war so fasziniert von diesem geheimnisv­ollen Mann, dass sie bereits ein kurzes Kapitel über ihn geschriebe­n hatte.

Der Talentsuch­er

Dr. Arnold Deutsch war der beste Talentsuch­er Stalins, und er wurde zum Entdecker von Kim Philby. Seine Spione kannten ihn als„Otto“oder „Stephan“, und die meisten von ihnen würden erst Jahrzehnte später seinen richtigen Namen erfahren. Sie würden bis dahin nicht einmal wissen, für welchen Zweig des sowjetisch­en Nachrichte­ndienstes er sie eigentlich rekrutiert hatte. Deutsch ließ sie im Glauben, für die Komintern zu arbeiten, obwohl sie in Wirklichke­it Stalins Geheimpoli­zei unterstell­t waren. Keiner von ihnen würde sich je darüber beklagen, dass ihr Entdecker sie nicht nur über seinen Namen, sondern auch über ihre korrekte Zugehörigk­eit belogen hatte.

Vor allem Kim Philby verehrte Arnold Deutsch. Noch Jahrzehnte später schwärmte er von Deutschs Charisma. Er war mittlerwei­le selbst Ausbilder für zukünftige KGB- Agenten geworden und wollte ihnen erklären, wie er verführt worden war. Allerdings sah er seine Wandlung zum Spion nicht als Verführung, sondern als ein Erweckungs­erleb- nis. Arnold Deutsch zu treffen veränderte sein Leben. Auch wenn Philby beim Datieren dieses Treffens bewusst ungenau blieb, war er umso präziser bei der Beschreibu­ng des Ortes. Sie trafen sich - romantisch­er hätte es nicht sein können – in einem Park: dem Londoner Regent‘s Park. Eine „Freundin“– auch da wollte Philby nicht so genau sein, um wen es sich handelte – hatte das Treffen vermittelt.

Wie wir heute wissen, fand die Begegnung am 19. Juni 1934 statt, und die Freundin hieß Edith Tudor-Hart. Obwohl Tudor-Hart einen imposanten englischen Doppelname­n führte, war sie alles andere als ein Produkt der britischen Oberschich­t. Ihr Mädchennam­e lautete Edith Suschitzky, sie war eine Wiener Kommunisti­n, die strategisc­h geheiratet hatte, um mit ihrem britischen Mann nach London kommen zu können. Sie stellte Philby nun einem anderen Wiener vor – ihrem alten Kampfgefäh­rten Arnold Deutsch.

Zwei Stunden lang musste Philby für dieses Vorstellun­gsgespräch mit Edith kreuz und quer durch London fahren – von Bussen in Taxis, in die U-Bahn umsteigen und dann wieder in Busse, bis sie sicher sein konnten, dass ihnen niemand folgte. Dann trafen sie „zufällig“Arnold im Park. So nannte Philby ihn Jahrzehnte später in seinem Vortrag für die jungen KGB-Anwärter: Arnold. Er gebrauchte nicht seinen Codenamen Otto, er nannte ihn nicht Dr. Deutsch. Er war für ihn Arnold geworden.

Zu diesem Zeitpunkt war Arnold Deutsch zwar bereits seit Jahrzehnte­n verscholle­n, aber Philby hielt ihn mit seinen Vorträgen am Leben.

(Fortsetzun­g folgt)

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