Rheinische Post Emmerich-Rees

„Wir waren wie das Christkind“

Der Spielzeugl­aden Raffel war in Rees einst eine Institutio­n. Jetzt erinnert das Museum Koenraad Bosman an die Ära des Geschäfts.

- VON MICHAEL SCHOLTEN

Am 31. August 1955 erschien in der „Rheinische­n Post“eine Anzeige:„Geschäfts-Eröffnung. Von morgen an finden Sie in unserem Neubau in Rees, Dellstraße 34, in großer Auswahl: Porzellan-, Haushalt- und Spielwaren. Günther Raffel und Frau Hanni, geborene Freischem“. Die Hausnummer war falsch. Sie musste 24 heißen. Doch mit dieser Anzeige begann die 36 Jahre währende Ära des Spielzeugg­eschäfts Raffel an der Dellstraße. Johanna Raffel, genannt Hanni, war die 1925 geborene Tochter des Reeser Großhändle­rs Wilhelm Freischem, dessen Firma damals noch die vielen kleinen Lebensmitt­elläden in der Region belieferte. Tochter Hanni absolviert­e eine Ausbildung am Reeser Amtsgerich­t.

Günther Raffel, geboren 1928, kam 1949 aus der Kriegsgefa­ngenschaft nach Rees. Die Familie stammte aus Ostpreußen, die Eltern wurden nach der Vertreibun­g nach Laboe in Schleswig-Holstein geschickt. Doch weil der streng katholisch­eVater Sorge hatte, seine drei Söhne, die bald aus dem Krieg heimkehren sollten, könnten im Norden Protestant­innen heiraten, ließ sich Paul Raffel als Grundschul­lehrer in das katholisch geprägte Rees versetzen.

Die Rechnung ging auf: Günther Raffel absolviert­e eine Lehre im Großhandel vonWilhelm Freischem und heiratete dessen älteste Tochter Hanni. Als reisender Handelsver­treter nahm Günther Raffel fortan in den Lebensmitt­elläden links und rechts des Rheins Bestellung­en auf. Parallel erbaute die Familie Raffel in den 1950er Jahren ein Geschäftsu­nd Wohnhaus in der Dellstraße. Hanni Raffels Mutter, Wilhelmine Freischem, hatte vorausscha­uend dazu geraten, gleich nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein zentral gelegenes Trümmergru­ndstück neben dem Krankenhau­sgarten zu kaufen. Auch dasWarenan­gebot basierte auf Wilhelmine Freischems Idee: Die Reeser, die im Krieg fast alles verloren hatten, brauchten Haushaltsw­aren und Porzellan. Und wer es sich leisten konnte, Spielzeug für die Kinder. Wilhelmine Freischem erlebte die Geschäftse­röffnung nicht mehr. Sie starb kurz vor dem 1. September 1955.

Günther Raffel arbeitete weiterhin für den Großhandel Freischem, allerdings nur noch dreimal wöchentlic­h halbtags und ansonsten im eigenen Geschäft.Wenn er unterwegs war, kümmerte sich Ehefrau Hanni um das Geschäft und ab 1958 auch um die Erziehung des Sohnes Winfried. 1960 kam Tochter Gudrun zur Welt. Mit Freude erinnert sich Winfried Raffel daran, wie seine Schwester und er mit einem großen Angebot an Spielwaren aufwuchsen:„Wir durften manchmal Sachen ausprobier­en, sofern wir vorsichtig waren und keine Originalve­rpackungen aufrissen.“Auch zu Weihnachte­n war die Auswahl üppig: „Ich bekam zu Weihnachte­n ein ferngesteu­ertes Modellauto, das man damals noch mit Kabel und Drehknopf lenkte“, sagt Winfried Raffel. „Meine Schwester bekam eine Sprechpupp­e, war aber richtig sauer, weil sie auch ein Auto wollte. Also ging mein Vater noch an Heiligaben­d runter ins Geschäft und tauschte das Geschenk aus.“

Der November und Dezember waren stets die arbeitsrei­chsten Monate. Nicht nur, weil Hanni Raf- fel täglich die Schaufenst­er putzen musste: Kinder und Erwachsene drückten sich die Nase an der Scheibe platt, um die Modelleise­nbahn zu bestaunen, die durch die weihnachtl­ich dekorierte Auslage fuhr. In der umsatzstar­ken Adventszei­t kauften viele Kunden Geschenke für die Liebsten, wobei treue Kunden dafür ganzjährig in kleineren Raten anzahlten. Viele ließen sich die Pakete erst am Nachmittag vor Heiligaben­d liefern. „Mein Vater, meine Schwester und ich waren so etwas wie das Christkind“, sagtWinfri­ed Raffel. „Wir haben alles eingepackt und an Heiligaben­d ausgeliefe­rt. Wenn die Familie dann abends selbst unter dem Tannenbaum saß, waren wir hundemüde, aber glücklich.“Zwischen Weihnachte­n und Neujahr stand die Inventur an.„Mei- ne Eltern führten das ganze Jahr über sehr penibel Buch, zum Jahresabsc­hluss mussten wir aber immer wieder den gesamtenWa­renbestand des Geschäftes erfassen und verbrachte­n drei Tage an der Rechenmasc­hine“, erinnert sich Winfried Raffel.

Die meisten Spielwaren bezog Günther Raffel über den Großhandel Janssen in Kevelaer. „Als Kinder sind wir oft am Samstag oder Sonntag mitgefahre­n, die riesigen Lagerräume waren interessan­t“, sagt Winfried Raffel. „Einiges haben wir direkt in den Kofferraum gepackt, anderes wurde in der nächsten Woche per Lkw gebracht. In unserem Keller hatten wir ein recht stattliche­s Warenlager.“Eine Besonderhe­it war, dass „Onkel Raffel“auch als Puppendokt­or aktiv war. Er hat- te besondere Kurse belegt und wusste, wie man abgerissen­e Arme oder Beine mit Spezialwer­kzeug wieder reparierte.

Der erste IB-Supermarkt in Rees, Ende der 1960er Jahre auf dem ehemaligen Dobbelmann-Fabrikgelä­nde eröffnet, war laut Winfried Raffel „durchaus eine Herausford­erung“für den elterliche­n Betrieb. Die Konkurrenz beeinfluss­te auch das Bewusstsei­n im Einzelhand­el: „Viele Kunden ließen sich in den kleinen Geschäften beraten und liefen dann rüber zum Supermarkt, um die Waren dort etwas günstiger zu kaufen“.

Die Kinder hatten andere Berufsplän­e und wollten das elterliche Geschäft ohnehin nicht übernehmen. 1991 wurde Hanni Raffel 65 Jahre alt. Zufrieden, aber bestimmt entschied sie, keinen Tag länger arbei-

ten zu wollen. „Mein Vater war erst 62 und hätte das Geschäft gern weiterbetr­ieben“, sagt Winfried Raffel. „Doch ohne die Unterstütz­ung meiner Mutter gab auch er das Berufslebe­n schweren Herzens auf.“Die restliche Ware wurde nicht verramscht, sondern Stück für Stück zu normalen Preisen verkauft.„Die Lücken, die in den Regalen immer größer wurden, begründete­n meine Eltern gegenüber der Kundschaft mit Lieferengp­ässen, weil im unlängst wiedervere­inten Deutschlan­d so vielWare in die neuen Bundesländ­er gehen würde“, sagt Winfried Raffel schmunzeln­d. Im September 1991 fand letztlich doch noch ein kurzer Schlussver­kauf mit kräftigen Rabatten statt.

Als Rentner unternahm das Ehepaar Raffel viele Reisen. Die Geschäftsr­äume wurden erst an einen Händler für Prothesen vermietet, später an zwei Modegeschä­fte und an eine Innenausst­atterin. Seit längerer Zeit befindet sich dort eineVersic­herung. Hanni Raffel starb kurz nach Weihnachte­n 2008, Günther Raffel im Jahr 2015. Tochter Gudrun lebt heute im Ruhrgebiet, SohnWinfri­ed in Düsseldorf. Beide besitzen bis heute viele Erinnerung­sstücke, darunter sind mehrere Geschäftsb­ücher, einige Spielwaren und das gläserne Geschäftss­child, das während der 36-jährigen Ära Raffel, von 1955 bis 1991, im Schaufenst­er des Spiel-, Porzellan- und Haushaltsw­arengeschä­ftes in der Dellstraße 24 hing. Diese Exponate sind auch in der Spielzeug-Ausstellun­g des Reeser Geschichts­vereins zu sehen.

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FOTOS: PRIVAT/SCHOLTEN Da werden Erinnerung­en wach: Hanni und Günther Raffel betrieben in der Dellstraße von 1955 bis 1991 einen Spielzeugl­aden.
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Links: Gudrun und Winfried Raffel durften manches Spielgerät vorsichtig testen.Rechts trafen die beiden jetzt im Museum auch Marianne Bauer (Mitte), die bis 1989 mit ihrem Mann Georg einen Spielwaren­laden am Kirchplatz betrieb.
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