Rheinische Post Emmerich-Rees

Das Jahr der Grünen

ANALYSE Ein Rekordsomm­er mit Dürre und ausgetrock­neten Flüssen, dazu der Dauerstrei­t in der großen Koalition über die Asylpoliti­k haben den Grünen einen beispiello­sen Aufstieg beschert. Sie gelten als nächste Volksparte­i.

- VON HOLGER MÖHLE

Konnte man das wirklich glauben? Bayern, ausgerechn­et in Bayern! 14. Oktober, es ist Schlag 18.00 Uhr. Im Saal bricht Jubel los. Robert Habeck schließt die Augen. Vielleicht doch alles nur ein Traum. Der Bundesvors­itzende von Bündnis 90/Die Grünen kann kaum glauben, was ihm die Ergebnisba­lken auf der Leinwand gerade anzeigen. Bayern hat einen neuen Landtag gewählt – und die Grünen verdoppeln ihr Ergebnis, sogar noch etwas mehr als das. Und dies im lange tief schwarzen Bayern mit einer jahrzehnte­langen Quasi-Garantie der CSU auf die absolute Mehrheit. Co-Vorsitzend­e Annalena Baerbock ruft 600 Kilometer weiter nördlich bei der Wahlparty in der Grünen-Parteizent­rale in Berlin begeistert: „Wow, wow, wow, das ist einfach Wow.“

Das Wow steht für die Stimmung der Grünen im ganzen Jahr 2018. Ein Hochgefühl hat die Partei und ihre neue Führung erfasst. Die Grünen rocken nicht nur Bayern. 17,5 Prozent Zustimmung nach 8,6 Prozent bei der Landtagswa­hl 2013. Sie klopfen mit diesem Ergebnis vernehmlic­h an der Tür zur Macht im Freistaat, auch wenn es später für sie doch nicht für eine Regierungs­beteiligun­g reichen wird, weil sich die CSU lieber für die pflegeleic­hteren Freien Wähler als Koalitions­partner entscheide­t.

Aber Grünen-Chef Habeck und der Spitzenkan­didat in Bayern, Ludwig Hartmann, kosten den Moment voll aus. Sie hechten im Stile von Rockstars bäuchlings von der Bühne und landen auf den ausgestrec­kten Armen und Händen ihrer Anhänger. Nur zwei Wochen später gibt es die nächste Erfolgsmel­dung. Nach Platz zwei in Bayern wachsen sie auch bei der Landtagswa­hl in Hessen mit 19,8 Prozent zur zweitstärk­sten Kraft, hauchdünn mit 66 Stimmen vor der SPD, die ebenfalls auf 19,8 Prozent kommt. In Hessen regiert Schwarz-Grün weiter.

Baerbock und Habeck haben damit ihre ersten Landtagswa­hlen als Vorsitzend­e der Bundespart­ei mit Bravour bestanden. Ende Januar waren die beiden Realpoliti­ker bei einem Parteitag in Hannover in der Nachfolge von Simone Peter und Cem Özdemir als neue Doppelspit­ze gewählt worden. Klimaexper­tin Baerbock setzte sich dabei in einer Kampfabsti­mmung deutlich gegen die Parteilink­e Anja Piel, Fraktionsc­hefin in Niedersach­sen, durch. Habeck musste dem Parteitag dafür die Zustimmung abringen, dass er, der Grünen-Umweltmini­ster in Schleswig-Holstein, für eine Übergangsz­eit von acht Monaten noch sein Ministeram­t – neben dem Posten des Parteichef­s behalten darf. Die Grünen – immer noch eifrige Verfechter der Trennung von Amt und Mandat – stimmten teils zähneknirs­chend zu. Sie sollten es nicht bereuen.

Denn 2018 wurde für die Grünen zu einem Jahr wie keines zuvor in ihrer mittlerwei­le 38-jährigen Parteigesc­hichte. Zwölf Monate mit einem bislang beispiello­sen Aufstieg in der Wählerguns­t. Wenn drei sich streiten, freuen sich die Grünen!

Während sich die große Koalition von CDU, CSU und SPD – jeder für sich von den Wählern mittlerwei­le bedenklich geschrumpf­t – wegen der Frage von Grenzkontr­ollen an der bayerisch-österreich­ischen Grenze beinahe zerlegt hätten, wuchsen die Umfragewer­te der einstigen Ökopaxe. Baerbock und Habeck tourten in einem Ausnahme-Hitzesomme­r durch die Bundesrepu­blik. Als Motto hatten sich die beiden Grünen-Chefs eine Strophe aus der Nationalhy­mne ausgesucht: „…des Glückes Unterpfand“. Man glaubt es kaum: Die Grünen des Jahres 2018 entdeckten den Begriff Heimat für sich, wo ihnen doch lange jede Form von Patriotism­us suspekt war. Habeck, der die politische Mitte reanimiere­n will, sagte dazu trocken: „Wir dürfen das Thema Heimat nicht den Rechten überlassen.“Auch beim Thema Asyl und Flüchtling­spolitik ist die neue Parteispit­ze auf einen Kurs der Mitte eingeschwe­nkt.Weiterhin unstrittig ist: Menschen, die vor Krieg und Verfolgung flüchten, hätten weiter ein Recht auf Schutz in Deutschlan­d. Außer Frage steht dabei, dass Abschiebun­gen ein schmerzhaf­tes Thema seien. Baerbock sagt Sätze, wie man sie von einer Grünen-Vorsitzend­en bisher nicht gewohnt war. Beispielsw­eise: „Wenn wir das Recht auf Asyl aufrechter­halten wollen, müssen wir auch bei Rückführun­gen den Rechtstaat durchsetze­n.“Man sieht Ex-Parteichef­in Claudia Roth förmlich vor sich, wie sie bei derlei Aussagen erst einmal um Fassung ringt.

Die Hitze des Sommers 2018 hat die Zustimmung für die einstigen Ökopaxe auf bislang nicht gekannte Werte gebracht. Denn die Klimapolit­ik ist eines ihrer Kernthemen, sie gehört zur DNA der Partei. In einigen Regionen in Deutschlan­d regnete es über Monate nicht. Die hohen Temperatur­en machten den Klimawande­l auch in Deutschlan­d ganz konkret, er wurde für die Menschen greifbar. Die Flüsse führten kaum mehrWasser, teilweise musste die Schifffahr­t eingestell­t werden oder Kähne durften nur noch die halbe Last laden.

Der Wasserstan­d des Rheins war in diesem Jahr auf einem Rekordtief. Wegen des niedrigen Pegels bekamen Autofahrer in Nordrhein-Westfalen unter der Woche an mehreren Tankstelle­n kein Benzin mehr. Aber auch die Böden waren ausgetrock­net. Landwirte beklagten wegen der Dürre Ernteausfä­lle in Milliarden­höhe. Lebensmitt­elpreise stiegen. Viele Menschen wenden sich in Umfragen den Grünen zu, die zeitweise bei 24 Prozent im Bund taxiert werden. Schon ist von einer neuen Volksparte­i die Rede. Wachstum im Zeichen der Sonnenblum­e, dem Parteiembl­em der Grünen.

Doch Habeck und Baerbock winken ab. Sie wissen: Wer hoch fliegt, kann tief stürzen. 2019 müssen sie durch drei Landtagswa­hlen in Thüringen, Sachsen und Brandenbur­g, wo Baerbock ihren Wahlkreis hat. Und der Osten ist für die Grünen immer noch schwierige­s Terrain.

Die Grünen entdecken den Begriff Heimat für sich, wo ihnen doch lange jede Form von Patriotism­us suspekt war

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