Als Ludwig Erhard zu Silvester mit Rücktritt drohte
Wer zum Jahreswechsel schreibt, tut das gern in floskelhaften Formeln, die nicht selten mit „Gutem Rutsch“und besten Wünschen enden. Das war Silvester 1958 nicht anders, als Ludwig Erhard „zum zehnten Male“zum Füllfederhalter griff, um Konrad Adenauer („Sehr verehrter lieber Herr Bundeskanzler!“) Grüße zu übermitteln und „Gefühle der Dankbarkeit zu bezeugen“.
So freundlich, wie die ersten Zeilen klangen, war der Brief aber gar nicht. Erhard, das personifizierte Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit, haderte offensichtlich mit Adenauers Führungsstil. Der Wirtschaftsminister fühlte sich vom Kanzler gedemütigt, hatte sogar „während der Feiertage Gedanken eines Rücktritts“bewegt. Er schrieb: „Ich will und kann die menschlichen Beziehungen nicht von den sachlichen Anliegen trennen.“Erhard forderte ein, was Adenauer nur bedingt zu geben bereit war: Zuwendung. Der Mann mit der Zigarre, nach außen stark und mächtig wie eine Lokomotive, sehnte sich offensichtlich nach „Harmonie“, die er als „innere Freude an der Arbeit“bezeichnete.
Das Silvesterschreiben erreichte seinen Adressaten, der Erfolg aber blieb aus. Adenauer nahm die Rücktrittsdrohung wohl nicht ernst, antwortete erst 14 Tage später. Das Verhältnis blieb gespannt – bis zuletzt, als Adenauer nicht verhindern konnte, dass Ludwig Erhard sein Nachfolger als Kanzler wurde.
Der Silvesterbrief, heute vor 60 Jahren unter dem Briefkopf „Professor Dr. Ludwig Erhard – Bundesminister für Wirtschaft“verfasst, dokumentiert ein Zerwürfnis, das der Öffentlichkeit seinerzeit weitgehend verborgen blieb. Das Schreiben endet, trotz aller Differenzen, mit Wünschen, die kaum pathetischer hätten formuliert werden können: „Ich kann dem deutschen Volk zum Jahreswechsel wieder einmal nichts Besseres wünschen, als dass Sie, lieber Herr Bundeskanzler, gesund und rüstig bleiben, um Deutschlands Schicksal in festen Händen halten zu können.“Horst Thoren