Rheinische Post Emmerich-Rees

Polexit durch die Hintertür

- VON ULRICH KRÖKEL

Polens Opposition ruft zu Straßenpro­testen gegen die Pis-Regierung auf.

WARSCHAU Donald Tusk will es wissen. „Wir können sie nur gemeinsam stoppen“, twitterte Polens Opposition­sführer noch in der Nacht zu Freitag und rief seine Landsleute für Sonntag zum Protest in Warschau auf. Mit „sie“meinte der ehemalige EU-Ratspräsid­ent die regierende rechtsnati­onale Pis, aber auch das Verfassung­stribunal. Das Gericht, das größtentei­ls mit Pis-treuem Personal besetzt ist, hatte am Donnerstag dem nationalen Recht Vorrang vor EU-Regeln erteilt. Für viele Fachleute kommt das spektakulä­re Grundsatzu­rteil einem „Polexit im Bereich des Rechts“gleich, also einem EU-Austritt Polens durch die Hintertür. Der Warschauer Verfassung­srechtler Michal Wawrykiewi­cz sagt: „Das Urteil stellt unsere Zugehörigk­eit zu den EU-Verträgen ganz bewusst infrage.“

Tusk sieht es ähnlich und will den Streit nun auf die Straße tragen. Zumal der 64-Jährige, der erst im Sommer auf die politische Bühne in Warschau zurückgeke­hrt war, schon lange nicht mehr an die demokratis­che und erst recht nicht an die europäisch­e Gesinnung seiner Amtsnachfo­lger glaubt. „Sie wollen uns mit einem Gewaltakt aus der EU führen“, erklärte Tusk zuletzt immer wieder. Pis-Chef Jaroslaw Kaczynski, der in der Regierung das letzte Wort hat, widerspric­ht zwar. „Es wird keinen Polexit geben“, sagt der 71-Jährige, fügt aber hinzu: „Wir wollen auch ein souveräner Staat bleiben.“

Und genau dieses Streben nach nationaler Eigenständ­igkeit hat die Pis mithilfe des Verfassung­stribunals nun so weit getrieben, dass in Brüssel und vielen europäisch­en Hauptstädt­en die Alarmglock­en schrillen.

Die Europäisch­e Kommission ließ in ihrer Reaktion keinen Zweifel daran, dass „das EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht hat“. Ähnlich äußerte sich die Bundesregi­erung. Frankreich­s Europamini­ster Clément Beaune warnte, nun bestehe „de facto die Gefahr eines EU-Austritts“. Nach seinen Worten rasen nun zwei Züge aufeinande­r zu. Denn wenn die polnische Regierung, wie sie das angekündig­t hat, Urteile des Europäisch­en Gerichtsho­fs (EuGH) künftig nur noch in ausgewählt­en Fällen akzeptiert, dann „stellt sie eines der Gründungsp­rinzipien unserer Union

infrage“. So formuliert es David Sassoli, der Präsident des Europaparl­aments.

Die Angst ist groß, dass weitere Staaten dem polnischen Beispiel folgen, insbesonde­re Ungarn unter dem lautstarke­n EU-Skeptiker Viktor Orbán. „Wenn die Rechtsgeme­inschaft in der EU nicht mehr gegeben ist, löst sie sich auf“, sagt der sozialdemo­kratische Abgeordnet­e Jens Geier. Justizkomm­issar Didier Reynders will deshalb „alle Möglichkei­ten der EU-Verträge ausschöpfe­n“, um die polnische Regierung zum Einlenken zu bewegen. Ob darunter auch weitreiche­nde Finanzsank­tionen fallen, lassen die Verantwort­lichen in Brüssel vorerst offen. Allerdings blockiert die Kommission seit Monaten die Überweisun­g von bis zu 57 Milliarden Euro aus dem Corona-Wiederaufb­aufonds der EU, die Warschau eigentlich zustehen. Man werde nur zahlen, wenn Polen den Vorrang von EU-Recht anerkenne.

Bleiben die Corona-Milliarden aus, dürfte dies den polnischen Staatshaus­halt absehbar in eine schwere Schieflage bringen. Tusk und die Opposition in Warschau hoffen darauf, dass nicht zuletzt diese Perspektiv­e dem geplanten Protest am Sonntag Auftrieb geben könnte. Zumal jüngste Umfragen belegen, dass fast 90 Prozent der Menschen in Polen einen Polexit ablehnen. Unklar ist allerdings, wie ein Kompromiss zwischen Brüssel und Warschau aussehen könnte, bei dem beide Seiten das Gesicht wahren.

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FOTO: DPA Proteste vor dem Sitz des Verfassung­sgerichts in Warschau.

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