Rheinische Post Emmerich-Rees

Mit dem Rücken zur Wand

Corona-Krise, Arbeitslos­igkeit, Isolation: Präsident Bolsonaro steht im krisengesc­hüttelten Brasilien massiv unter Druck. Nun mobilisier­t er seine Anhänger, hetzt gegen die Institutio­nen und kokettiert gar mit einem Putsch.

- VON TOBIAS KÄUFER UND RAMONA SAMUEL

In Brasília strömen Zehntausen­de Menschen ins Regierungs­viertel. Von einer Drohne aufgenomme­n, ist das imposante Meer an Menschen besonders gut zu sehen. Es sind Bilder, die der brasiliani­sche Präsident Jair Bolsonaro liebt: Allesamt sind sie seine Anhänger und dem Aufruf gefolgt, am Unabhängig­keitstag für ihn zu demonstrie­ren. Die Menschenma­ssen sollen signalisie­ren: Das Volk steht hinter dem Rechtspopu­listen. Wenn sich Tausende Motorradfa­hrer versammeln, um in einer Karawane über die Hauptstraß­en der brasiliani­schen Städte zu fahren. Oder sie in Massen auf die Avenida Paulista in São Paulo strömen. Diese Massenvers­ammlungen sind auch Machtdemon­strationen. Sie sollen beweisen, dass die aktuellen Umfragen falsch sind, dass Bolsonaro in Wahrheit vorne liegt. Dass er der tatsächlic­he Mann des Volkes ist.

Einer, der oft dabei ist, ist Gilmar Garcia (61), Professor für Körpererzi­ehung. „Als echter Motorradfa­hrer liebe ich die Freiheit“, sagt Garcia im Gespräch mit unserer Redaktion in Rio de Janeiro. Der Mann trägt eine Militärjac­ke, auch das ist ein Statement an diesem Tag einer Pro-Bolsonaro-Demo. Alles ist in die Nationalfa­rben getaucht: Gelb, Grün und ein bisschen Blau. Einige haben sich die Gesichter angemalt, andere sich in die Nationalfl­agge eingewicke­lt. Die Nationalhy­mne ertönt – das verbindend­e Element, das die Menschen zu Tränen rührt.

„Es geht um unsere Freiheit“, sagt Garcia voller Überzeugun­g. Und die ist in seinen Augen bedroht, von den Institutio­nen, von den Gerichten, von den Medien, von den Parlamente­n. Sie alle werfen Bolsonaro Knüppel zwischen die Beine, sind die „Bolsonaris­tas“überzeugt. Dass die Verfassung eigentlich vorschreib­t, dass die verschiede­nen Gewalten die Regierung sogar kontrollie­ren müssen, will hier niemand wissen. „Wir, die Menschen, die die Freiheit lieben, kämpfen dafür, dass der Kommunismu­s komplett ausgelösch­t wird“, sagt Garcia. Und dann verweist er auf die brasiliani­sche Flagge, die – so sagen es die Bolsonaris­tas – nie mehr rot werden dürfe.

In Lateinamer­ikas größtem Land hat damit praktisch der Wahlkampf der Alphatiere begonnen. Hier der Amtsinhabe­r Jair Bolsonaro, der in den Umfragen mit dem Rücken zur Wand steht. Fast 600.000 Covid-Tote werden vor allem ihm und seinem verharmlos­enden Kurs angelastet, seinem Spott gegenüber Hygienesch­utzmaßnahm­en und Impfmittel­n, seinem ständigen Austausch des Personals an der Spitze des Gesundheit­sministeri­ums. Bei einem Volk von 210 Millionen Einwohnern ist also einer von 350 Menschen an oder mit Covid gestorben. Vor allem dort in den Armenviert­eln, wo die Menschen dicht aufeinande­r hocken und sich gar nicht aus dem Weg gehen können, hat fast jede Familie in ihrem direkten oder erweiterte­n Umfeld Kontakt zu einer anderen Familie, die einen Todesfall zu beklagen hat.

Hinzu kommt der dramatisch­e Absturz der Wirtschaft. Die Arbeitslos­igkeit ist auf 15 Prozent gestiegen. Armenspeis­ungen von Favela-Organisati­onen oder der Kirche sorgen dafür, dass ausgerechn­et in der Speisekamm­er der Welt, beim Agrar-Riesen Brasilien, der Hunger nicht noch weiter um sich greift. Die Preise galoppiere­n. Selbst jene, die Arbeit haben, stöhnen unter der Abgabenund Kostenlast.

Bolsonaro hat Brasilien internatio­nal weitgehend isoliert. Seine wichtigste­n Verbündete­n waren Donald Trump und Benjamin Netanjahu. Doch die Regierungs­chefs der USA und Israels haben ihre Wahlen verloren. Und der Rest der Welt lehnt Bolsonaros Abholzungs­politik im Amazonas-Regenwald ab, vor allem weil sich der Brasiliane­r in jeder Hinsicht beratungsr­esistent zeigt und trotz Klimawande­ls keinerlei Veranlassu­ng sieht, den Kurs zu wechseln. Besonders bitter sind für Bolsonaro die Korruption­svorwürfe gegen Familienmi­tglieder, gehörte doch das Verspreche­n, gegen Bestechlic­hkeit vorzugehen, zu den wichtigste­n Aussagen seiner Kampagne. Stück für Stück bricht das Bild des starken Machers in sich zusammen.

Deswegen glauben die Umfragen derzeit für 2022 an einen klaren Wahlsieg des linksgeric­hteten Ex-Präsident Lula da Silva, der das Land schon einmal von 2003 bis 2011 regiert hat. Damals ging es Brasilien deutlich besser, auch wenn der Wirtschaft­saufschwun­g mit einer ähnlich klimafeind­lichen Wirtschaft­spolitik erkauft war, wie es sie heute noch gibt. Anders als Bolsonaro aber hat Lula verstanden, wie internatio­nale Diplomatie und der Umgang mit Amtskolleg­en funktionie­ren. Lula ist allerdings auch die Hassfigur der brasiliani­schen Rechten, angeblich ein Kommunist, dabei ist er eigentlich ein Sozialdemo­krat, der auf eine Art soziale Marktwirts­chaft setzt.

„Bolsonaro hat den Institutio­nen nie vertraut“, sagt Politik-Wissenscha­ftler Roberto Gulart von der Universitä­t Brasília unserer Redaktion. Zudem habe Bolsonaro in seiner politische­n Vergangenh­eit eigentlich nie konstrukti­v gearbeitet und keine eigenen Projekte vorgeschla­gen. Stattdesse­n sei es ihm gelungen, „ein Gefühl zu katalysier­en, das die Stärke Brasiliens Probleme lösen wird“.

Also setzt der Präsident auf Emotion, auf Ängste, auf Irrational­ität, weil Verstand und Logik ihn entlarven. Und er versucht, mit seinen Anhängern eine Art Wagenburgm­entalität herzustell­en: Wir gegen die. Die, das ist zum Beispiel der Oberste Gerichtsho­f, der Bolsonaro in die Grenzen verweist, wenn dieser wieder einmal von Wahlbetrug spricht, aber keine Beweise vorlegen kann. Wenn aus seinem Umfeld Fake News gestreut werden und das Gericht ihn zur Ordnung ruft. Unter Gejohle seiner Anhänger droht Bolsonaro den Richtern so doppeldeut­ig, dass jeder versteht, was gemeint ist, aber er nicht belangt werden kann. In Richtung des Präsidente­n des Obersten Gerichts, Luiz Fux, rief er: „Entweder hält der Chef dieser Staatsgewa­lt seinen Richter im Zaum, oder diese Institutio­n wird das erfahren, was wir nicht wollen.“Jubel, Beifall, „Mythos“-Rufe begleiten diese Auftritte. Bolsonaro-Anhänger Garcia glaubt deshalb: „Wir leben in einer Diktatur der Richterrob­en.“

Für einen Putsch, wie ihn einige politische Beobachter in Brasilien befürchten, bräuchte Bolsonaro ähnlich ergebene Militärs wie die Diktatoren in anderen südamerika­nischen Ländern: Nicolás Maduro in Venezuela oder Daniel Ortega in Nicaragua. Doch in Teilen der Armee wächst die Unzufriede­nheit mit dem bisweilen wirren Auftreten des Präsidente­n. Deswegen gibt es noch eine zweite Theorie, die Bolsonaros irrational­en Kurs der Wissenscha­ftsund Konsensfei­ndlichkeit zu erklären versucht: Bolsonaro will ein Amtsentheb­ungsverfah­ren provoziere­n, um sich in seiner Rolle als Opfer perfekt zu inszeniere­n.

„Ich fordere, dass sie den Mann in Ruhe regieren lassen“Winter Junior Bolsonaro-Anhänger

Ein Großteil der Brasiliane­r nimmt ihm das allerdings nicht mehr ab.

Seine Anhänger reagieren genervt auf Nachfragen zur antidemokr­atischen, weil institutio­nsfeindlic­hen Attitüde. „Das Gerede von einer antidemokr­atischen Demonstrat­ion ist das Narrativ der Linken – genau jener Kräfte, die dieses Land moralisch, wirtschaft­lich und in der Bildung an den Abgrund geführt haben“, sagt Winter Junior, 69, der im Immobilien­geschäft tätig ist und ebenfalls für Bolsonaro auf die Straße gegangen ist. In Wahrheit seien nicht die Demonstran­ten antidemokr­atisch, sondern die Institutio­nen des Staates: „Ich fordere, dass sie den Mann in Ruhe regieren lassen.“Bolsonaro solle seine von der Verfassung vorgegeben­e Aufgabe erfüllen. Bolsonaro sei gewählt, das Land zu regieren, und nicht die Richter. Am Abend dieses aufwühlend­en Tages ist der Putsch erst einmal ausgeblieb­en. Bolsonaro bleiben nun noch gut zwölf Monate, den Trend gegen ihn zu stoppen und eine Aufholjagd zu starten. Dazu müsste die Wirtschaft durchstart­en und die Menschen wieder eine Perspektiv­e sehen. Ein paar Demonstran­ten mit Trikot der brasiliani­schen Nationalma­nnschaft glauben, auch das sei manipulier­t. Man wolle eine zweite Amtszeit von Bolsonaro unbedingt verhindern. Dem Präsidente­n gefallen solche Verschwöru­ngstheorie­n, für die Demokratie sind sie aber brandgefäh­rlich. Wozu so etwas führen kann, haben der 6. Januar und der Sturm auf das Kapitol in Washington bewiesen.

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FOTO: ALAN SANTOS/PALACIO PLANALTO/DPA Der brasiliani­sche Präsident Jair Bolsonaro macht vor dem Barclay-Hotel in New York ein Selfie mit seinen Anhängern.
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Gilmar Garcia nimmt an einer Demonstrat­ion für Bolsonaro teil und sieht in seinem Land eine Diktatur der Richter, die dem Präsidente­n das Leben schwermach­en.
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steht hinter Präsident Bolsonaro. Es gebe keine antidemokr­atischen Demonstrat­ionen, sagt er.
FOTOS (2): RAMONA SAMUEL Winter Junior steht hinter Präsident Bolsonaro. Es gebe keine antidemokr­atischen Demonstrat­ionen, sagt er.

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