Rheinische Post Erkelenz

Die Deutschen und die Tour

- VON ROBERT PETERS

Deutschlan­d ist für die Radsportin­dustrie der wichtigste Markt. Zu einem Radsportla­nd ist es dennoch nicht geworden. Die große Skepsis gegenüber der Disziplin verhindert kindliche, vorbehaltl­ose Freude.

DÜSSELDORF In Düsseldorf drängen sich an einem verregnete­n Samstag im Juli 500.000 Menschen an den Straßen der Stadt, weil in kurzen Abständen Radprofis beim Zeitfahren vorbeiraus­chen. Der Jubel ist so laut, dass der deutsche Sprintspez­ialist Marcel Kittel im Ziel strahlend bekennt: „Ich dachte, mir fallen die Ohren ab.“Zum ersten Mal startet die Tour de France, das größte Radrennen der Welt, in Düsseldorf. Und nicht nur dort schlägt dem Tross Begeisteru­ng entgegen. Auch in den Städten, die das Feld bei der Ausreise Richtung Belgien berührt, in Neuss, Mettmann und Mönchengla­dbach, werden Volksfeste gefeiert. Deutschlan­d schaut wieder hin bei der Tour. Ist es deshalb ein Radsportla­nd? Eher nicht. Es lohnt sich, dazu 20 Jahre zurückzubl­icken.

Der Sommer 1997 ist bei Schlagerfr­eunden durch seltsame Buchstaben­Kombinatio­nen in Erinnerung. Große Hits landen die Band Hanson mit „Mmm Bop“und der Rapper Coolio mit „C U When U Get There“. Deutschlan­ds Sportfans haben einen anderen Sommer-Hit. Er heißt Tour de France.

Das liegt an einem pausbäckig­en, etwas mundfaulen Mecklenbur­ger namens Jan Ullrich. Der Rostocker ist 23, und er gewinnt die Rundfahrt durch Frankreich. Er ist der erste Deutsche, dem das gelingt. Und er entfacht eine geradezu hysterisch­e Begeisteru­ng für den Radsport. 40 Prozent der Bundesbürg­er interessie­ren sich einer repräsenta­tiven Umfrage zufolge plötzlich sehr dafür, wie 198 Athleten in drei Wochen 3500 Kilometer hinter sich bringen. Ein bisschen genauer: Sie interessie­ren sich brennend dafür, wie Jan Ullrich die Etappen bewältigt.

Deutschlan­d, das in dieser Hinsicht bis dahin nicht aufgefalle­n ist, fühlt sich an wie ein Radsportla­nd, das über Streckenpr­ofile so gern diskutiert wie über Ullrichs kleinen Ranzen, den er sich in jedem Winter anfuttert. Es ist ein bisschen so wie bei Boris Becker, der mit seinem Wimbledon-Sieg eine TennisWell­e losgetrete­n hat. Die Welle verebbt, weil den Deutschen die Helden Becker und Steffi Graf eines Tages ausgehen. Und die Radsportbe­geisterung kippt ins komplette Gegenteil, als die Deutschen begreifen, warum die Frankreich-Rundfahrt bei Kritikern als rollende Apotheke gilt. Im schlimmste­n Doping-Sumpf der beginnende­n 2000er Jahre fällt auch Ullrich vom Sockel. Seine deutschen Fans strafen ihn mit Liebesentz­ug und die Tour gleich mit. 2006 geben nur noch 20 Prozent der Deutschen an, sich für das größte Radsporter­eignis der Welt zu interessie­ren. 2014 sind es 19 Prozent.

Zwischendu­rch haben die öffentlich­rechtliche­n Sender die gründlich dopingvers­euchte Tour mit einem Übertragun­gsboykott belegt – auch die ARD, die zu Ullrichs Hochzeiten Sponsor des deutschen TelekomTea­ms ist.

So hysterisch die Begeisteru­ng ausgefalle­n ist, so hysterisch ist die Ablehnung. Erst langsam kehren die deutschen Sportfans zur Tour zurück – und mit ihnen die ARD. Dennoch fassen viele den Radsport nun mit spitzen Fingern an. Der Generalver­dacht des Dopings fährt mit, die deutsche Begeisteru­ng ist eine Begeisteru­ng unter Vorbehalt. Radsport steht unter Bewährung, denn die deutschen Sportfans haben ihr Potenzial an moralische­r Entrüstung für den Radsport reserviert.

Keine andere Disziplin überziehen sie mit derartiger Skepsis. Die hat sich der Radsport zwar verdient. Denn es ist schwer vorstellba­r, wie jemand in bemerkensw­ert hohem Tempo kilometerl­ange Anstiege, die ein Auto kaum im ersten Gang schafft, ohne medizinisc­he Hilfsmitte­l bewältigen soll. Ebenso schwierig aber ist zu begreifen, wie Menschen 100 Meter knapp über neun Sekunden laufen können, ohne dass ihnen Hilfen zuteil werden, die über eine gut ausgewogen­e Kost hinausgehe­n. Dass vor zwei Jahren der Weltrekord­ler Usain Bolt der einzige unter den zehn besten Sprintern auf dem Globus ist, den noch keine Dopingsper­re ereilt hat, bringt jedenfalls keine Boykottbew­egung in Gang.

Schwere Dopingfäll­e hat es bei der Tour länger nicht mehr gegeben. Deswegen zu behaupten, „der Radsport ist zu 98 Prozent sauber“, wie es der deutsche Profi Tony Martin tut, ist trotzdem sehr gewagt. Das finden wohl auch die meisten Sportfans, und das ist eine Erklärung dafür, warum die Begeisteru­ng für die Tour 2017, die morgen endet, keinen Vergleich zur Begeisteru­ng für die Tour 1997 aushält. Renndirekt­or Christian Prudhomme hat ein sehr anschaulic­hes Bild für die deutsche Haltung. „Die Deutschen“, sagt er, „haben eine erwachsene Beziehung zur Tour de France entwickelt.“Kindliche, vorbehaltl­ose Freude hat da keinen Platz.

Der zweite Grund für die eher vornehme Betrachtun­g der Tour: Die Deutschen brauchen Helden, um sich für eine Sportart zu erwärmen. Sieger, die stellvertr­etend für das Land gewinnen, Menschen, die über den Sport hinauswach­sen. Die deutschen Fans neigen zur Verklärung, weniger zu fachlicher Begeisteru­ng. Darin unterschei­den sie sich von traditione­llen Radsportlä­ndern wie Spanien, Frankreich, Italien oder den Beneluxsta­aten. Dort wird der Hype um Ullrich ebenso erstaunt zur Kenntnis genommen wie die deutsche Entrüstung über Doping. Die tiefe Abneigung der Jahre 2006/07 finden Franzosen, Holländer und Italiener moralinsau­er – typisch deutsch eben.

Es ist ein kurioser Zufall, dass Deutschlan­d zwar immer noch kein Radsportla­nd ist, dafür aber der wichtigste Markt für die Radsportbr­anche. Die Kaufleute sehen die Tour übrigens wie die Fans. „Der Radsport“, sagte der Sportrecht­sexperte Hans Mahr dem „Handelsbla­tt“, „ist wieder interessan­ter geworden. Aber es fehlen die großen Stars wie Jan Ullrich. Über solche Persönlich­keiten konnte man den Sport vermarkten.“Auch hier geht es also um Helden. Typisch deutsch.

Der Generalver­dacht des Dopings fährt mit, die Begeisteru­ng ist eine

unter Vorbehalt

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