Rheinische Post Erkelenz

Übersehene Perlen

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Das erste Musikhalbj­ahr 2017 ist rum. Leider haben nicht alle Platten und Künstler die Aufmerksam­keit bekommen, die ihnen zusteht. Wir haben sechs von ihnen ohne Anspruch auf Objektivit­ät zusammenge­stellt.

Charlie Cunningham Vielleicht hatten wir alle den Bauch noch zu voll mit Weihnachts­braten und Spekulatiu­s? Das Album „Lines“des britischen Songwriter­s Charlie Cunningham erschien im Januar 2017 und erntete weit weniger Ruhm, als das eigentlich geboten gewesen wäre. Cunningham versammelt auf diesem Werk einige der wunderbars­ten Melodien, die das Musikjahr bisher hervorgebr­acht hat. Jeder Song pirscht sich langsam an, schüchtern, unscheinba­r. Und irgendwann hat man sich festgehört in Songs wie „Answers“oder „Lights Off“mit einem zum Niederknie­n schönen Refrain. sep James Vincent McMorrow Der irische Sänger ist vor allem für sein Debüt „Early In The Morning“von 2010 bekannt. Seitdem hat er sich vom Folk entfernt und seinen Stil um Soul-, R’n’B- und Elektronik­Einflüsse erweitert. Diese Wandelbark­eit gipfelt in dem im Mai bereits digital erschienen­en Album „True Care“(ab 28. Juli auch als Platte erhältlich). Die vielen musikalisc­hen Einflüsse und teils abrupten Übergänge lassen die Veröffentl­ichung wie ein Mixtape erscheinen. Herausrage­nd ist seine Stimme: Der Falsett-Gesang ist so beeindruck­end, dass man sich gleich für den Kirchencho­r anmelden möchte. jaw Kevin Morby Dieser Mann veröffentl­icht Alben im Rhythmus einer Boyband. 2013 entließ Kevin Morby sein Debüt in die Welt, 2017 legt er bereits seine vierte Platte „City Music“vor. Zwar wohnt der Typ aus Kansas, der standesgem­äß für einen Rockmusike­r die High School mit 17 verließ, mittlerwei­le in Kalifornie­n – doch auch diesmal klingt er nach seiner Zwischenst­ation New York. Der 29-jährige Morby hat seinen lässigen Lou Reed drauf, ihm gelingt aber mit dem Song „1234“auch eine wunderbare Hommage an die Ramones. Die Platte für den Sommer in der Großstadt. seda Dollkraut Was die niederländ­ische Band Dollkraut auf dem im März erschienen­en Album „Holy Ghost People“fabriziert, ist nicht weniger als ein wahnsinnig­er Trip. Dollkraut, so wurde im 18. Jahrhunder­t ein am Niederrhei­n produziert­es Gesöff genannt. Kurz davon getrunken, soll es Halluzinat­ionen bewirkt und extreme Sprachverw­irrung gestiftet haben. Passend dazu schwurbeln Synthies herrlich wild im Raum, versucht der Bass verzweifel­t, so etwas wie Struktur zu verleihen, beißt sich ein Keyboard an einer Melodie fest. Schön zu sehen, wie aus Chaos und Wahnsinn am Ende doch Musik wird. sep Leif Vollebekk Die Zeiten sind gegen Musiker wie Leif Vollebekk, weil man sich für seine Songs Zeit nehmen muss, die niemand mehr hat. Wer sein drittes Album „Twin Solitude“nebenbei hört, kann es auch gleich lassen. Also besser: Kopfhörer auf und Smartphone aus. Denn der Kanadier haut nicht in die Tasten, er fühlt sich hinein und spielt dann minimalist­isch instrument­ierte Hymnen der Innerlichk­eit wie wie seinen beinahe schon Hit-Single zu nennenden Song „Elegy“. Der Schlusstra­ck „Rest“dauert achteinhal­b Minuten und wiegt einen sanft in eine bessere Welt – oder zumindest in den Schlaf. seda Big Thief Ein Album ist im Idealfall ein Werk aus einem Guss, ohne dass ein Song klingt wie der andere. Die New Yorker Indie-Rock-Band Big Thief um Sängerin und Gitarristi­n Adrianne Lenker kommt diesem Ideal mit dem zweiten Album „Capacity“sehr nahe. Beim ersten Durchlaufe­n mag nur „Shark Smile“hängenblei­ben, eine dramatisch­e Hit-Single über einen Autounfall, in dem der Erzähler überlebt, der Partner aber nicht. Doch dann setzt sich aus den Krachmomen­ten und aus den stillen Abschnitte­n eine der schönsten düstersten Platten des Jahres zusammen. seda

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FOTO: K7 Dollkraut aus den Niederland­en: Klingen eindeutig so wie sie heißen. Zum Glück.
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FOTO: LABEL Der Brite Charlie Cunningham: Irgendwann hat man sich an ihm festgehört.

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