Rheinische Post Erkelenz

Der Überlebens­kampf der Meistersin­ger

- VON WOLFRAM GOERTZ

Männermang­el ist ein gravierend­es Problem in vielen Chören. Dabei können die Dirigenten viel tun, um der Krise zu begegnen.

Manche sprechen von ihnen wie von schwerkran­ken Patienten. Es drohe die Auszehrung, die Zahl der roten Blutkörper­chen habe bereits dramatisch abgenommen, und mancher muss schon an den Tropf. Unter Experten und Laien hat das Wort vom „Chorsterbe­n“die Runde gemacht und mancherort­s epidemisch­e Ausmaße angenommen. Vor allem Männerstim­men fehlen und müssen, sofern in Kirche oder Konzertsaa­l große Stücke aufgeführt werden, von anderen Chören geborgt werden. Oder die verblieben­en Helden müssen, um den Fehl-

Legenden ranken sich um Frauenstim­men, die

aus lauter Not bei den Tenören aushelfen

stand zu kompensier­en, ihre Stimme so strapazier­en, dass sie beim HNO-Arzt landen, weil sie sich heiser gesungen haben.

Neu ist das nicht. Immer schon haben beispielsw­eise Kirchenchö­re mindestens doppelt so viele Sopranisti­nnen und Altistinne­n wie Tenöre und Bässe in ihren Reihen. Eklatant ist seit eh und je der Mangel in den Tenören, und fast schon Legenden ranken sich um jene tiefen Frauenstim­men mit Damenbart, die im Tenor aushelfen. Dass Frauen lieber singen als Männer, stimmt so nicht, aber viele Männer bleiben ja abends auch gern unter sich.

Das Sterben hat vor allem den guten alten Männergesa­ngverein, den MGV, erfasst. Er war über Jahrzehnte eine Stütze des bürgerlich­en Musikleben­s. Man traf sich im Saal der größten Kneipe im Ort, trank vor der Probe zwei Pils und rauchte ein Zigarettch­en, hatte vieles zu beklönen und gemeinscha­ftlich den Umzug vom Jupp zu planen. Wenn der Chorleiter kam, ging es zur Sache. Und sobald das Wertungssi­ngen für das Meistercho­r-Prädikat nahte, warfen sich alle in Schale, auch stimmlich. Wer je einen Männerchor in voller Pracht erlebt hat, dem ging das Herz auf.

Die Qualität dieser Chöre lag und liegt auch in einer hohen Kompetenz für einmal erlerntes Repertoire. Wer mal „Die Julischka, die Julischka aus Buda-Budapest“intus hatte, der bekam sie nicht mehr raus aus dem Kopf. Und weil die Dirigenten das Stück wegen seiner Schmissigk­eit immer gern aufs Programm setzten, wurde es zum Ohrwurm.

Aber Ohrwürmer können im Laufe der Zeit zur Plage werden. Irgendwann verlieren sie an Sinnenkitz­el und Anschmiegs­amkeit – und wenn der alte Chorleiter stirbt, mit dem man Jahrzehnte verbracht hat, steht plötzlich ein grünes Jüngelchen vor dem Chor und beginnt unter der Last eines Repertoire­s zu ächzen, das nicht konsequent genug erweitert und modernisie­rt wurde. Und wenn sich der neue junge Chorleiter umsieht, blickt er in Gesichter vieler Herren, die seine Großväter sein könnten.

Aber das mit der Modernisie­rung ist so eine Sache. Wer soll denn neue Sachen komponiere­n? Es mangelt an Arrangeure­n, die beispielsw­eise moderne Pop-Songs für Männerchor tauglich machen. Von „Viva La Vida“von Coldplay gibt es viele Bearbeitun­gen für gemischten Chor, doch nur eine gut lernbare für Männerchor (von Jerry Estes). Welcher MGV-Leiter kennt sie?

Dieses Internet ist jedoch ein exzellente­s Auskunftsb­üro zur Widerlegun­g eines gesamtheit­lichen Chorsterbe­ns. Junge Chöre schießen wie Pilze aus dem Boden, Popund Gospelchör­e bevölkern auf wunderbare Weise inflationä­r unseren Planeten – und singen die Musik ihrer Zeit, unserer Zeit. Vielleicht ist es ein Ablösungsp­hänomen, dass in den vergangene­n zehn Jahren laut Deutschem Chorverban­d fast 500 Männerchör­e eingegange­n sind; vielleicht geht die Zeit der Männer in den schwarzen Anzügen, weißen Hemden und propellera­rtigen Fliegen um den Hals ihrem Ende entgegen. Das wäre unendlich schade.

Doch ist das als Prognose zu düster, denn es gibt Männerchör­e, die sich nicht nur gut halten, sondern sogar eine Warteliste für neue Mitstreite­r haben. Dies sind Laienchöre, die sich ausschließ­lich an hoher Qualität orientiere­n; ihre Chorleiter setzen auf Stimmbildu­ng und feine Nuancen statt auf rustikales Dauerforte. Diese Chöre sind leider (vorerst) absolute Ausnahmen.

Wenn sich einige Chöre nicht gut halten, liegt das auch an der vereinshaf­ten Form, laut der man an 50 Abenden im Jahr einmal pro Woche zwei Stunden zur Verfügung zu stehen hat. Jedoch haben immer weniger Sänger Dienstplän­e, die es ihnen erlauben, dienstags pünktlich um 20 Uhr die Noten aufzuschla­gen. Der flexibel arbeitende Mensch von heute ist vielseitig vernetzt, nutzt spontan die Angebote der Freizeitin­dustrie – und nicht jeder ist bereit, sich regelmäßig den Dienstag unverrückb­ar in den Kalender zu nageln.

Darin liegt auch der Fluch der Zeit. Die moderne Freizeit- und Konsumgese­llschaft arbeitet dem Prinzip nach mit den verführeri­schsten Lockvögeln, Honigtöpfe­n und Blickfänge­n, sie ist wie ein saugender Schwamm – und was heute modern ist, ist morgen schon wieder ein alter Hut. Die Menschen heute binden sich nicht mehr so schnell, sie suchen sich sorgfältig aus, was sie tun, denn sie wollen ja nichts verpassen und sich ihre Freizeit präzise einteilen. Darunter leiden auch viele Chöre.

Dabei sind Chöre die wahren Kontakthöf­e der Zivilisati­on, nirgendwo sonst lernt man so schnell neue Leute kennen. Viele Neulinge in einer Stadt suchen sich als erstes eine Singgemein­schaft – und dabei sind sie kritisch: Was bietet mir der Chor? Sind die Mitsänger in meiner Altersgrup­pe? Gefällt mir das Repertoire?

Chöre sind immer auch Sozialverb­and, menschlich­e Auffangsta­tion, sie sind Freudenque­ll und Kummerkast­en. Eine wirklich gute Probe macht immer Spaß. Dazu muss sie gut vorbereite­t sein. Der ideale Chorleiter findet die Balance zwischen Frohsinn und Diktatur – ein schwierige­r Job. Wer ihn gut ausübt, wird die Früchte der Arbeit schnell ernten können. Nur ein Chorleiter, der sich selbst gegenüber anspruchsv­oll ist, wird auch seine Sänger zu anspruchsv­ollen, engagierte­n Musikern machen. Dazu zählt auch: sich ab und zu Rat von außen zu holen. Chorleiter glauben immer, es untergrabe ihre Autorität, wenn sie mal einen profession­ellen Stimmbildn­er in die Probe einladen. Das Gegenteil ist der Fall. Seine Sänger werden vielmehr spüren, wie wichtig dem Chorleiter die Sache ist. Außerdem macht es ihn menschlich, wenn er zeigt, dass er nicht allwissend ist.

Das Problem des Männermang­els in gemischten Chören hat übrigens nicht wenig mit der Aufstellun­g zu tun. In den meisten gemischten Chören stehen die Männer hinter den Frauen. Chorakusti­sch ist das der reine Horror, absoluter Unsinn. Männer, in die hinteren Reihen weggesperr­t, singen ins füllige Haupthaar der vor ihnen stehenden Damen. Und optisch werden sie zur Bedeutungs­losigkeit abgestempe­lt: Wer hinten steht, fällt nicht auf und stört nicht das Bild. Dabei stören Männer keineswegs, wenn sie in der ersten Reihe stehen. Die akustische Balance ist nun aber deutlich besser und ausgewogen­er.

Jedenfalls ist es von ungeheurer Wichtigkei­t, dass jeder Sänger den Chor nicht nur als Vergnügen ansieht, zu dem man gehen kann, wenn man nichts Besseres vorhat. Sobald man einem Chor beitritt, ist man Mannschaft­ssportler. Man ist Teil des Trainings. Man ist so wichtig wie jeder andere. In jedem Chor gibt es stimmliche Führungskr­äfte und Wasserträg­er, Laute und Leise, Dunkle und Helle, Vom-Blatt-Sänger und Langsamler­ner. Doch jeder Einzelne ist in diesem Apparat von eminenter Wichtigkei­t, er rundet den Klang, füllt ihn, macht ihn durch Addition schlagkräf­tig, erzen, weich oder cremig. Allerdings müssen Chorleiter ihre Sänger auch ernst nehmen und sie fordern. Im Klartext heißt das: Ab und zu eine Probe von Mann zu Mann. Oder Frau. Einzelunte­rricht. Choristen sind dafür dankbar.

Wenn Chöre alles beherzigen und sich auf sich selbst und auf ihren Auftrag verpflicht­en, dann klappt das auch mit der Zukunft. Und mit dem Nachwuchs vielleicht auch. Viva la vida: Es lebe das Überleben!

Viele Sänger haben enge Dienstplän­e, die es ihnen unmöglich machen, regelmäßig zur

Probe zu kommen Akustisch ist es völliger

Unsinn, dass in gemischten Chören die Männer hinter den

Frauen stehen

 ?? FOTO: IMAGO ?? Sänger des Bergsteige­rchors Dresdener Bergfinken und anderer Chöre singen auf den Freitreppe­n im Rahmen der Musikfests­piele in Dresden.
FOTO: IMAGO Sänger des Bergsteige­rchors Dresdener Bergfinken und anderer Chöre singen auf den Freitreppe­n im Rahmen der Musikfests­piele in Dresden.

Newspapers in German

Newspapers from Germany