Rheinische Post Erkelenz

„Meine Geschichte macht Sinn“

- VON JESSICA BALLEER

Der Mönchengla­dbacher Icek Ostrowicz (90) hat den Holocaust überlebt. Heute setzt er sich in einer Stiftung dafür ein, dass jüdische Studierend­e eine gute Zukunft in Deutschlan­d haben. Was treibt ihn an?

MÖNCHENGLA­DBACH Es ist ein sommerlich­er Tag in Willich. Doch die jungen Leute im Hotel „Willicher Ramhshof“wirken angespannt: Hemd und Anzug, Bluse und Rock – der erste Eindruck soll stimmen. Heute treffen die knapp 20 Stipendiat­en zum ersten Mal auf den Vorstand der Stiftung, die sie von jetzt an mit monatlich 780 Euro fördern wird. Die Vorsitzend­en der Gerhard C. Starck Stiftung betreten den Raum. Auch Icek Ostrowicz (90) kommt herein. Elegante Brille, feiner Anzug, Einstecktu­ch im Jackett. Ostrowicz hält eine kurze Rede. Danach wissen die Stipendiat­en, dass er Mitbegründ­er und Schatzmeis­ter der Stiftung ist. Sonst aber wissen sie nichts über Icek Ostrowicz. Nicht, dass der 90-Jährige Karriere im Modegeschä­ft gemacht hat. Und nicht, dass es Ostrowicz’ Vergangenh­eit als Holocaust-Überlebend­er ist, die ihnen eine gute Zukunft ermögliche­n soll.

Vor dem Tagungsrau­m steht ein kleines Buffet. „Ist das koscher?“, fragt eine junge Stipendiat­in. Victoria Anikonava (20) kommt aus Duisburg und ist jüdischen Glaubens – wie alle Studierend­en hier. Das ist Voraussetz­ung für ein Stipendium der 2004 gegründete­n Stiftung: Jüdisch zu sein und einen überdurchs­chnittlich guten Schulabsch­luss zu besitzen. In der Satzung heißt es, Zweck der Stiftung sei die Förderung besonders begabter jüdischer Menschen, „die dem deutschen Sprach- und Kulturraum verbunden sind“. Während Vorstand und Stipendiat­en eine kurze Pause einlegen, nimmt Icek Ostrowicz in einem Séparé Platz und erinnert sich an die Anfänge.

In den 50er Jahren hatte er Gerhard C. Starck in Mönchengla­dbach kennengele­rnt. Unterschie­dlicher hätten die beiden kaum sein können: Starck war ein breitschul­triger Mann, Akademiker, Anwalt. Ein jüdischer Industriel­lensohn, der nach dem Tod der Eltern das gesamte Vermächtni­s erben sollte. Ostrowicz’ Geschichte ist bewegter – es ist das Schicksal eines vertrieben­en Jugendlich­en, der es zum erfolgreic­hen Geschäftsm­ann brachte.

1927 wurde Ostrowicz im polnischen Kielce geboren. Eines Montagmorg­ens im Jahr 1942, erzählt er, mussten die jüdischen Bewohner ihre Unterkunft verlassen. „An diesem Tag beginnt mein Schicksal“, sagt Ostrowicz. Als einziger aus seiner Familie wurde der damals 13jährige Icek nicht ins Vernichtun­gslager Treblinka deportiert, sondern zu den „arbeitsfäh­igen Juden“aussotiert. Dass ihm ein Schulabsch­luss, Studium oder eine Ausbil- dung verwehrt bleiben würden, war da bereits sicher. Es ging allein darum zu überleben.

Ostrowicz’ dreijährig­e Odyssee begann in einem Arbeitslag­er. Wenig später nach Pionki versetzt, flüchtete er zum ersten Mal. Doch schon nach zwei Tagen der Orientieru­ngslosigke­it, ohne Essen und Hilfe, schleppte sich der Jugendlich­e ausgerechn­et zurück in das Arbeitslag­er. „Ich war jung und allein. Wohin hätte ich gehen sollen?“, sagt er heute. Harte Arbeit, Folter und Tod gehörten zum Alltag. Mit einigen anderen Gefangenen gelang ihm erneut die Flucht. Die Gruppe floh nach Kielce, wo Ostrowicz wieder verhaftet und in das KZ Großrosen gebracht wurde. Nun aber als offizielle­r Häftling mit Gefangenen­nummer. „3-0-5-0-8“, sagt der 90Jährige, „diese Zahlen werde ich nie vergessen.“

Von Großrosen ging es 1944 weiter ins KZ Mittelbau-Dora. Dass sowjetisch­e und amerikanis­che Truppen näherkamen, ahnte er damals nicht. Auch nicht, dass die Deutschen die KZ-Häftlinge loswerden wollten. Während neben ihm Menschen auf dem „Todesmarsc­h“umkamen, überlebte der junge Ostrowicz auch diese Tortur. Das Kriegsende erlebte er am 12. April 1945 in Egeln bei Magdeburg, als ihn amerikanis­che Soldaten befrei- ten. In der Hoffnung, seine Familie zu finden, ging er zurück nach Kielce. „Ich erfuhr, dass meine Eltern und meine Geschwiste­r tot sind“, sagt er und blickt gedankenve­rloren in den Raum. Aus seiner Erinnerung holt ihn ein Klopfen an der Tür. Die Vorstellun­gsrunde der Stipendiat­en in Willich beginnt.

Als erste steht Victoria Anikonava auf. In Duisburg engagiere sie sich für die Jüdische Gemeinde und studiere Humanmediz­in. „Für die Unterstütz­ung bin ich sehr dankbar“, sagt die 20Jährige. Dank des Stipendium­s bleibe auch neben dem Studium Zeit für soziales Engagement. Anna Stepanskaj­a (19), die Jura in Düsseldorf studiert, und Medizinstu­dent Aaron Boris Liven (21) betonen, dass sie den Zuschuss mit guten Leistungen und Engagement zurückgebe­n wollen.

Drei junge Menschen, in denen die Vorstandsm­itglieder der Stiftung die „personalis­ierte Zukunft des deutschen Judentums“sehen, betont Vorsitzend­er Hubert Just an diesem Tag. „Es ist wichtig, dass nicht Hitler und sein Gefolge das letzte Kapitel in der christlich-jüdischen Geschichte prägen.“Der Tag geht in Gemeinscha­ft zu Ende.

Zwei Wochen später. Icek Ostrowicz sitzt in seinem Wonhzimmer in Mönchengla­dbach. Er trägt ein rot-blau kariertes Hemd, dazu eine royalblaue Stoffhose. Seine Ehefrau Elfi bringt Wasser und Gebäck. Und draußen stutzt ein Roboter-Rasenmäher das Grün.

Ostrowicz erzählt, dass er als 18-Jähriger nach dem Krieg zunächst nach Türkheim (Bayern) zog. Doch Ostrowicz blieb nur kurz. „Ich wollte etwas im Textilgewe­rbe machen, wie meine Eltern.“Die Bekanntsch­aft mit dem damaligen Sparkassen­direktor Strauss, Mitinhaber der Gladbacher Firma „Strauss & Overlack“, führte ihn nach Mönchengla­dbach. Die Textilbran­che blühte und Ostrowicz schlug Wurzeln, er heiratete und wurde Vater.

Wirtschaft­lich ging es stetig bergauf: Das erste Kapital, die Lizenzen und Stoffe mussten her. Jeden Pfennig habe er sich mühsam zusammenge­spart. Am 1. Oktober 1950

Victoria Anikonava gründete er seine eigene Firma „Ostita Moden“. Anfang der 70er Jahre war Ostrowicz der erste Importeur italienisc­her Strickware­n in ganz Deutschlan­d. In Gerhard C. Starck hatte er einen guten Freund gefunden. Starck schätzte den Wissenshun­ger von Ostrowicz, der ein eigenes Geschäft aufzog, vier Sprachen lernte und ehrgeizig war. In einem der vielen Gespräche fiel der Satz, der heute den Kern der Stiftung bildet: „Wenn du hättest studieren können, wer weiß, was aus dir geworden wäre.“

Nachdem Gerhard C. Stark im Jahr 2000 verstarb, nahm dessen Witwe Kontakt zu Ostrowicz auf. Ihr sei bewusst, dass dem jüdischen Volk drei Generation­en verloren gegangen sind. „Deswegen hatte sie beschlosse­n, das Erbe in eine Stiftung für begabte jüdische Jugendlich­e aus dem deutschen Sprachund Kulturraum zu geben.“Ostrowicz rezitiert den Wortlaut, der in der Satzung der Stiftung steht.

Dass er selbst nie studiert hat, bereut Ostrowicz nicht. Und er hadert nicht. „Meine Geschichte macht Sinn, weil wir daraus gelernt haben“, sagt er. Es gebe Werte, die ihn das Leben gelehrt hätten: Strebsamke­it, Fleiß und Ehrlichkei­t, „und dass ein Wort ein Wort ist“. Immer nur zu nehmen, sagt er, das sei ja nicht gerecht.

„Dank des Stipendium­s bleibt auch im Studium Zeit für soziales Engagement“

Stipendiat­in

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FOTOS: JANA BAUCH, BALL Icek Ostrowicz in seinem Haus in Mönchengla­dbach: Er hat es vom Vertrieben­en zum erfolgreic­hen Geschäftsm­ann gebracht. In der Starck Stiftung engagiert er sich etwa neben Herbert Just (Vorsitzend­er) und Charlotte Knobloch (ehem. Vorsitzend­e des...
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