Abgrund
Vielleicht würde er später versuchen zu schlafen, jetzt wollte er die Protagonisten dieses Morgens noch einmal Revue passieren lassen, wollte sich einprägen, was er gesehen hatte, weil er nicht wusste, ob und wann er noch einmal Vergleichbares erleben würde. Er hatte das Gefühl, dass die Tage wie im Fluge vergingen. Bald würde er wieder in Kiel sein.
Er nahm die Speicherkarte aus der Kamera und blickte, während der Computer hochfuhr, durch das Kajütenfenster auf Fernandinas fast 1500 Meter hohen La Cumbre, den aktivsten Vulkan des Archipels, um dessen Kratergipfel sich dekorativ einige Wolken gruppiert hatten. Zuletzt war er im April 2009 ausgebrochen, ohne Vorwarnung, ohne dass die Nadeln der seismischen Station in Puerto Ayora in den Tagen zuvor auch nur einen Erdstoß registriert hätten. La Cumbre war eine schlafende Dämonin, die jederzeit erwachen konnte. Irgendwo tief unter dem schildförmigen Berg befand sich der Hot Spot, dem diese Inseln und alles, was darauf lebte, ihre Existenz verdankten, eine Lavaquelle, die seit Jahrmillionen nicht versiegte.
Hermann wandte sich dem Monitor zu und startete den Film. In diesen Gewässern musste man immer mit starken Strömungen rechnen, die einem den schönsten Tauchgang verleiden konnten. An manchen Plätzen blieb einem nichts anderes übrig, als sich an einem Felsen festzuhaken und darauf zu warten, was die Strömung so vorbeitreiben würde. Und wenn die äquatoriale Unterströmung mal wieder einen Schwung frischen Tiefenwassers in den Kanal zwischen Isabela und Fernandina drückte, konnte das Wasser empfindlich kalt sein. We- gen dieser kalten, kohlendioxidreichen Wassermassen aus den Tiefen des Pazifiks glaubten manche Wissenschaftler, auf Galápagos das versauerte Meer der Zukunft studieren zu können. Deshalb waren Lieke, David, Salvatore und die anderen hierhergekommen.
Doch heute Morgen hatte nichts dergleichen ihren Tauchgang beeinträchtigt, keine tückischen Strömungen, keine Kälte, keine störenden Gedanken an das Sterben der Korallenriffe oder die Versauerung der Ozeane. Die düsteren Szenarien zur Zukunft des Planeten schienen ein paar Meter unter der Wasseroberfläche zu einem Hirngespinst katastrophensüchtiger Medien zu schrumpfen. Obwohl Hermann es besser wusste, oder zumindest glaubte, es besser zu wissen – wer konnte bei den hochkomplexen Zusammenhängen, um die es hier ging, schon sicher sein –, ertappte er sich manchmal bei der Hoffnung, die Forscher und ihre Computer könnten sich irren und all die schrecklichen Vorhersagen zur Veränderung des Weltklimas und deren Folgen würden sich wie das Waldsterben als Untergangsfantasie einiger notorischer Schwarzseher entpuppen.
Sie hatten viel gesehen, und Alberto hatte auf seinem Klemmbrett mit dem wasserfesten Papier eine lange Liste von Tierarten notiert, darunter auch große wie die Grünen Meeresschildkröten, die hier sehr häufig waren, und eine in Keilformation schwimmende Schule Goldener Kuhnasenrochen. Ein vier Meter langer Hammerhai war gemächlich über ihren Köpfen dahingeglitten. Vielleicht war er auf dem Weg nach Norden, um bei den weit abgelegenen Inseln Darwin und Wolf auf seine Verwandtschaft zu stoßen. Seine Artgenossen versammelten sich dort zu Hunderten, einer der spektakulärsten Tauchplätze der Welt, sofern man die Nerven hatte, durch eine Wolke von kreisenden Hammerhaien abzutauchen.
Das Tier, das ihm und Anne hier in der Nähe so telegen vor die Kamera geschwommen und der Anlass für diese Bootstour gewesen war, hatte sich nicht blicken lassen, natürlich nicht. Darauf zu hoffen, dass es ihnen noch einmal begegnen würde, war sowieso ziemlich naiv. Manche Arten, wie die Galápagoshaie, waren zwar recht ortstreu, andere legten aber gewaltige Distanzen zurück, und schwimmen mussten die großen Haie immer, sonst drohten sie zu ersticken. Dazu kamen die Sichtverhältnisse, die alles andere als optimal waren. Ihre Suche war also vermutlich aussichtslos, aber es war ihre einzige Chance. Wenn sie das Rätsel lösen wollten, mussten sie tauchen, Ausschau halten und hoffen, dass das Tier sich zeigte. Hermann war vom bisherigen Verlauf ihrer Unternehmung jedoch nicht enttäuscht, im Gegenteil, er konnte sich keine schönere Art vorstellen, einen Tag zu beginnen, als mit einem solchen Ausflug in die Tiefe. Wenn es ihnen nicht gelang, den Hai zu finden, würden sie in jedem Fall eine Menge Spaß haben.
Die Bedeutung seiner ersten Begegnung mit dem Tier war Hermann zunächst gar nicht bewusst gewesen. Kurz nach ihrer Rückkehr in die Station hatten Anne und er beschlossen, sich auf der schattigen Terrasse des marinen Labors die Videoaufnahmen anzusehen. Sie hatten sich in der Teeküche Wasser heiß gemacht, die dampfenden Tassen standen vor ihnen auf dem Tisch, im Gesträuch um die Station piepsten die Darwinfinken, unten auf der Rampe putzten zwei Pelikane ihr Gefieder, und an einem schmalen, schattigen Plätzchen drängten sich ein Dutzend Meeresleguane neben- und übereinander zusammen, um der sich ankündigenden Mittagshitze zu entkommen, als plötzlich die Tür zu den Büros aufging und Dieter Grumme heraustrat, der Leiter der marinen Abteilung der Charles-Darwin-Station. In seiner Begleitung befand sich ein zweiter Mann, der einen dicken, grau melierten Schnurrbart trug. Hermann stutzte, als er ihn sah, dann strahlte er über das ganze Gesicht. „Ich glaub’s ja nicht. Alberto!“„Überraschung!“, posaunte Dieter und trat mit seinem Begleiter zu ihnen an den Tisch.
„Und was für eine“, rief Hermann. Er kannte Alberto Luengo Costa aus den späten Neunzigerjahren, als er nach einem starken El Niño in mehreren lateinamerikanischen Ländern Untersuchungen an Humboldt-Kalmaren durchgeführt hatte. Sie waren damals gute Freunde geworden, doch jetzt hatten sie sich seit Jahren nicht mehr gesehen.
Hermann stand sofort auf, um seinen Kollegen zu begrüßen, der erst am Vortag aus Guayaquil angereist war. Er machte ihn mit Anne bekannt und stellte ihn ihr als einen der besten Fischkenner Südamerikas vor. Die beiden waren etwa im selben Alter und musterten sich interessiert. Alberto war noch immer ein sehr attraktiver Mann, auch wenn er an den Hüften ein wenig fülliger geworden war. Das mittlerweile angegraute Haar stand ihm ausgezeichnet.
(Fortsetzung folgt)