Atomangst: Aachen verteilt Jodtabletten
Die Medikamente sollen bei einem Störfall im Kernkraftwerk Tihange schützen. Über 45-Jährige bekommen allerdings keine.
AACHEN Die vierköpfige Familie Vitr war schon längst in der Apotheke und hat sich Jodtabletten gekauft. Seitdem haben die Eltern, Mirco und Anika, sie immer im Portemonnaie bei sich – auch Tabletten für ihre fünf und zwei Jahre alten Kinder. Die Angst vor einem Atomunfall im knapp 70 Kilometer entfernten belgischen Kraftwerk Tihange ist groß. Experten zweifeln schon seit längerem die Sicherheit belgischer Atommeiler bei einem Störfall an. Der 38-jährige Familienvater erinnert sich auch an seine Kindheit, als er nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl nicht mehr im Sandkasten seines Onkels spielen durfte.
Heute beginnen die Stadt Aachen und die Region mit der Verteilung der Kaliumiodidtabletten. Diese sollen im Falle eines Reaktorunfalls Strahlenschäden an der Schilddrüse verhindern. „Eine solche Vorverteilung ist deutschlandweit bisher einmalig und hat uns deshalb vor große Herausforderungen gestellt“, sagt Markus Kremer, Leiter der Koordinierungsgruppe. Nun können alle dazu berechtigten Personen aus der Stadt Aachen, der Städteregion und den Kreisen Düren, Euskirchen und Heinsberg online von heute bis zum 15. November einen Bezugsschein beantragen, mit dem sie die Tabletten in nahezu allen Apotheken der Region abholen können.
Bezugsberechtigt sind Personen bis einschließlich 45 Jahre sowie altersunabhängig alle Schwangeren und Stillenden. Das sind insgesamt gut 600.000 Menschen in der Regi- on. Bei Erwachsenen ab 46 Jahren ist das Risiko für schwere Nebenwirkungen in Folge der Tabletteneinnahme höher als das Risiko, an Schilddrüsenkrebs zu erkranken. Sie sind daher von der Vorverteilung ausgeschlossen.
Die Jodtabletten dürfen jedoch nicht vorsorglich, sondern nur nach Aufforderung der Katastrophenschutzbehörde eingenommen werden. Den Mitteilungen und Empfehlungen der Katastrophenschutzbehörden sollte unbedingt Folge ge- leistet werden, betonen die Koordinatoren.
Wie viele Menschen eine Abgabe beantragen, sei schwer abzuschätzen, sagt Kremer. „Erfahrungen aus anderen Ländern zeigen, dass etwa 20 bis 30 Prozent der Menschen von der Vorverteilung Gebrauch machen“, sagt er. „Die hohe Sensibilität in der Region für das Thema Tihange kann jedoch dazu führen, dass es möglicherweise auch mehr sind.“Wer sich nicht darum kümmert, wird im Falle eines GAUs auch versorgt. Es gibt Notfallverteilpläne und weitere Schutzmaßnahmen. Die Stadt Aachen hat sich aber zu der präventiven Verteilaktion entschieden, weil befürchtet wird, dass im Ernstfall die Zeit nicht reicht, die Bevölkerung mit hoch dosierten Jodtabletten zu versorgen. Es gibt viele Unbekannte in den in Aachen durchgespielten Szenarien: Passiert der Unfall tagsüber, nachts, in der Ferienzeit, wie stark ist der Wind, regnet es? „Je nachdem, wie das genaue Szenario aussieht, haben wir ganz große Zweifel, dass wir es schaffen, Jodtabletten rechtzeitig zu verteilen“, begründet Kremer die Maßnahme. Sofort müssten über die ganze Stadt verteilt und an fußläufig zu erreichenden Punkten Ausgabestellen eingerichtet werden, „und das in einer Zeit, wo nicht nur geringe Unruhe entsteht“, beschreibt er die Herausforderung.
Alle Beteiligten sind sich einig: Die Verteilung ist nötig und sinnvoll. „Natürlich gibt es vielfältige Gefahren bei einem Reaktorunfall“, sagt Stefan Derix, Geschäftsführer der Apothekerkammer Nordrhein. „Doch wenn man zumindest die Schilddrüse durch eine einfache, wissenschaftlich fundierte Maßnahme schützen kann, ist das doch schon mal was.“Die ausgegebenen Tabletten sind laut Aufdruck bis zum 31. Dezember 2021 haltbar. „Durch eine behördliche Prüfung, ob die Wirksamkeit noch gegeben ist, könnte die Haltbarkeit im Nachhinein noch mal verlängert werden“, erklärt Derix.
Durch die Verteilung der Tabletten verändert sich nach Meinung des Heidelberger Psychologen Pro-