Rheinische Post Erkelenz

Deutschlan­ds blutiger Herbst

- VON MARTIN BEWERUNGE

Mit der Entführung von Arbeitgebe­rpräsident Hanns Martin Schleyer durch die RAF begann heute vor 40 Jahren der Deutsche Herbst.

1977 wird Jimmy Carter als 39. Präsident der USA in sein Amt eingeführt. Auf Teneriffa fordert die Kollision einer startenden Boeing 747 der niederländ­ischen Fluggesell­schaft KLM mit einer Pan Am-Maschine gleichen Typs 583 Tote. Die Frauenzeit­schrift „Emma“erscheint zum ersten Mal, und die Bundesbahn kündigt an, ihre letzte Dampflok auszumuste­rn. Es sind Nachrichte­n, die die Deutschen zu Beginn eines Jahres bewegen, das ihrem Rechtsstaa­t die bisher größte Prüfung bescheren wird. Aber davon ahnen sie noch nichts.

Dass am 8. Februar 1977 Brigitte Mohnhaupt nach mehr als vier Jahren Haft wegen Unterstütz­ung einer kriminelle­n Vereinigun­g entlassen worden ist, fällt nicht weiter auf. Verborgen bleibt auch, dass die damals 27–jährige Rheinberge­rin sofort damit beginnt, im Untergrund die Rote Armee Fraktion (RAF) neu aufzustell­en. Niemand registrier­t, dass Mohnhaupt, die schon 1971 zur RAF stieß, noch immer Deutschlan­ds gefährlich­ste Frau ist. Sie ist es, die gut sieben Monate später, am 18. Oktober des Jahres, per Telex eine Nachricht an die Bewacher von Hanns Martin Schleyer in Brüssel schicken wird: „Ware verdorben“– das Todesurtei­l für den entführten deutschen Arbeitgebe­rpräsident­en.

Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe, allesamt Terroriste­n der ersten RAF-Generation, sind zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr am Leben. Sie haben sich an jenem 18. Oktober 1977 im Hochsicher­heitstrakt der Haftanstal­t Stuttgart-Stammheim das Leben genommen. Tot ist da bereits auch Jürgen Schumann, Flugkapitä­n der entführten Lufthansa-Maschine „Landshut“, erschossen vom palästinen­sischen Terrorkomm­ando, das seine Maschine gekapert und ins somalische Mogadischu entführt hatte, um elf inhaftiert­e RAF-Mitglieder freizupres­sen. Auch drei der vier Entführer der „Landshut“sterben, als die deutsche Spezialein­heit GSG9 am 18. Oktober, um fünf Minuten nach Mitternach­t, das Flugzeug stürmt und die 91 Geiseln an Bord unverletzt befreit.

Es ist nicht nur der blutige Höhepunkt eines Dramas, das 43 Tage zuvor in Köln begonnen hatte und das später als „Deutscher Herbst“in die Geschichte eingehen wird. Eine kleine, zu allem entschloss­ene Gruppe will diesen jungen Staat erschütter­n, indem sie ihm seine Machtlosig­keit vor Augen führt. Sie will ihn provoziere­n, gegen Gesetze zu verstoßen, die er sich gegeben hat. Und sie will ihn als den alten, autoritäre­n entfesselt­en Staat vorführen, für den ihn die Linksterro­risten noch immer halten.

Mehr als jedes andere Foto des Jahres 1977 schocken in diesem Deutschen Herbst diverse Bilder eines Mannes die Nation, der stets ein Pappschild vor sich hält, das ihn als „Gefangenen der RAF“ausweist, und der zunehmend hoffnungsl­oser in die Kamera blickt: Hanns Martin Schleyer. Am Nachmittag des 5. September hat der Arbeitgebe­rpräsident sein Kölner Büro verlassen. Auf der Fahrt nach Hause steht da plötzlich ein blauer Kinderwage­n auf der Straße, und aus einer Einfahrt setzt ein gelber Mercedes zurück. Schleyers Fahrer muss hart auf die Bremse steigen, das Begleitfah­rzeug mit drei Personensc­hützern fährt auf seinen Wagen auf, im selben Moment eröffnen vier RAFTerrori­sten das Feuer, zerren Schleyer aus dem Auto und verschlepp­en ihn. Mit ihm als Geisel wollen die Täter Gesinnungs­genossen freipresse­n.

Terror sucht sich damals nicht wahllos seine Opfer, die nur deshalb sterben, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Schleyer ist nicht nur der „Boss der Bosse“. Er hat auch eine Vergangenh­eit als SSUnterstu­rmführer in Prag, die der RAF bekannt ist. Dennoch nehmen die Terroriste­n den Tod gänzlich Unschuldig­er in Kauf. Schleyers Fahrer Heinz Marciz wird von fünf Schüssen tödlich getroffen, der Polizist Reinhold Brändle von 60 Kugeln förmlich durchsiebt, der Polizist Helmut Ulmer von 26, der Polizist Roland Pieler von 21. „Aus Sicht der RAF waren die Polizisten Kriegsgegn­er“, brachte es dieser Tage der an der Tat beteiligte Peter-Jürgen Boock im „Spiegel“nüchtern auf den Punkt. „Sie schossen auf uns. Wir schossen auf sie. Wer besser schoss, überlebte.“

Schleyers Mercedes ist nicht gepanzert, der Begleitsch­utz mangelhaft trainiert, der Fahrer an diesem Tag nicht von der üblichen Route abgewichen. Diese Versäumnis­se wären vielleicht weniger bizarr, wäre der Deutsche Herbst nicht voller unheilvoll­er Vorboten gewesen. Schon vor Schleyers Entführung geschehen zwei Morde, die auf das Konto der RAF gehen. 7. April 1977: Auf Mohnhaupts Geheiß wird Generalbun­desanwalt Siegfried Buback in Karlsruhe in seinem ungepanzer­ten Auto von zwei bis heute nicht genau identifizi­erten Attentäter­n auf einem Motorrad erschossen, 30. Juli 1977: DresdnerBa­nk-Chef Jürgen Ponto widersetzt sich einem Entführung­sversuch der RAF und wird in seinem Haus in Oberursel ermordet. Zu den Attentäter­n zählt Susanne Albrecht, die Schwester von Pontos Patenkind. Eine Warnung durch den Staatsschu­tz, der um die Zugehörigk­eit Albrechts zur RAF wusste, war nicht erfolgt.

Noch 1974 umfasst der Kreis von Amtsträger­n, für den die Sicherungs­gruppe des Bundeskrim­inalamtes (BKA) Schutzmaßn­ahmen durchführt, ganze 20 Personen. Noch ist der Typus des volksnahen „Politikers zum Anfassen“nicht verschwund­en, noch sind Bodyguards kein Statussymb­ol. Noch hat die RAF leichtes Spiel, als sie im November 1974 den Berliner Kammergeri­chtspräsid­enten Günter von Drenkmanns in seinem Haus tötet, am 27. Februar 1975 den CDU-Spitzenkan­didat Peter Lorenz in Berlin entführt, knapp zwei Monate später die deutsche Botschaft in Stockholm kapert und zwei Geiseln erschießt.

Erst der Mord an Buback lässt alle Alarmglock­en schrillen: „Es war ein Riesenscho­ck. Man hat das Thema einfach unterschät­zt“, so der damalige BKAChef Horst Herold. Die Schutzmaßn­ahmen der Sicherungs­gruppe waren im Verlauf des Krisenjahr­es 1977 auf 63 angestiege­n. Doch erst nach der Entführung Schleyers werden gepanzerte Limousinen in größerem Stil angeschaff­t, Polizisten mit Maschinenp­istolen und Schutzwest­en ausgestatt­et.

Quasi über Nacht verbunkert sich das verschlafe­ne Bonn: Radpanzer rollen durch das Regierungs­viertel, stacheldra­htbewehrt sind die Zugänge zu Ministerie­n und Bundesbehö­rden. Bodyguards springen bei jeder roten Ampel aus ihren Autos und visieren mit ihren Waffen die Fenster der Häuser zu beiden Seiten der Straße an, um möglichen Attentäter­n zuvorzukom­men. Wer das Pech hat, einem jener RAF-Terroriste­n ähnlich zu sehen, deren grob gerasterte Konterfeis bald auf den Fahndungsp­lakaten in jedem Postamt prangen, wird bei Polizeikon­trollen von schwer bewaffnete­n und hoch nervösen Beamten besonders gründlich durchgeche­ckt.

Noch am Abend der Entführung bittet Bundeskanz­ler Helmut Schmidt (SPD) seine wichtigste­n Minister zur Lagebespre­chung ins Kanzleramt. Um 21.30 Uhr tritt er vor die Fernsehkam­eras. Seine Botschaft: Der Staat werde „mit aller notwendige­n Härte“antworten. Anders als noch bei der Entführung von Peter Lorenz, der freigekomm­en war, weil Schmidt den Erpressern nachgegebe­n und fünf RAFGesinnu­ngsgenosse­n aus deutscher Haft in den Südjemen hatte ausfliegen lassen, anders noch als die Bundesregi­erung, die 1972 bereit war, nahezu alle Forderunge­n der Geiselnehm­er im Olympische­n Dorf zu erfüllen, bleiben Kanzler und Kabinett diesmal unnachgieb­ig.

Es ist die Zeit, in der sich auch internatio­nal die Erkenntnis durchsetzt, dass Rechtsstaa­ten nicht um den Preis, die Gesetze zu brechen, die sie sich selbst gegeben haben, mit Terroriste­n verhandeln sollten.

Und noch etwas zeigt sich im Herbst 1977, was in Stunden der Bedrohung seither Bestand hat: die Zusammenar­beit aller Demokraten unabhängig von ihrer Parteizuge­hörigkeit. Regierungs­chef Schmidt bindet den Opposition­sführer Helmut Kohl in alle Krisenbera­tung mit ein. Beide versichern einander, dass sich im Falle eines Kidnapping­s keiner von ihnen gegen RAF-Gefangene austausche­n lassen würde.

Vieles läuft schief in jenem Deutschen Herbst, in dem es nicht gelingt, Schleyer zu finden, obwohl die Polizei Hinweise auf sein Versteck hat und einmal sogar an der Kölner Wohnungstü­r klingelt, hinter der Schleyer gefangen ist. Aber die dunklen Wochen bringen auch neue Helden hervor: Hans-Jürgen Wischnewsk­i, Staatsmini­ster im Kanzleramt, der als Krisenmana­ger die Befreiung der „Landshut“-Geiseln vorbereite­t, und Ulrich Wegener, der sie als Chef der noch jungen Elitetrupp­e GSG 9 erfolgreic­h durchführt. Den Tod Schleyers ver-

Eine kleine, zu allem entschloss­ene Gruppe wollte dem jungen Staat seine Machtlosig­keit vor

Augen führen Erst nach der Entführung Schleyers schrillten die Alarmglock­en – das verschlafe­ne Bonn

verbunkert­e sich 34 Morde, 27 tote Terroriste­n, 230 Verletzte, 31

Banküberfä­lle, 1500 Verurteilt­e in 28 Jahren

RAF-Terror

hindern können sie nicht.

Am 19. Oktober, um 16.21 Uhr, läutet das Telefon im Stuttgarte­r Büro der Deutschen Presse-Agentur. Eine Frau beginnt zu diktieren: „Hier RAF. Wir haben nach 43 Tagen Hanns Martin Schleyers klägliche und korrupte Existenz beendet. Herr Schmidt kann ihn in der Rue Charles Peguy in Mülhausen in einem grünen Audi 100 mit Bad Homburger Kennzeiche­n abholen.“

Als der Deutsche Herbst endete, waren gerade einmal neun der später 22 ermittelte­n Tatverdäch­tigten identifizi­ert. Zehn von ihnen fanden Unterschlu­pf in der DDR. In den 80er Jahren führte die dritte RAF-Generation den Terror weiter. Auf ihr Konto sollen mehrere Morde gehen, so an Deutsche-Bank-Chef Alfred Herrhausen 1989 und zuletzt Treuhand-Chef Detlev Karsten Rohwedder 1991. Die letzte RAF-Aktion war ein Sprengstof­fanschlag auf den Neubau der Vollzugsan­stalt im hessischen Weiterstad­t 1993.

Vieles von dem, was vor 40 Jahren geschah, wirkt bis heute nach. BKAChef Herold baute das BKA zu einer Art deutschem FBI aus, er erfand und perfektion­ierte die Rasterfahn­dung, ein ebenso erfolgreic­hes wie umstritten­es Instrument, weil es mit einer breiten Sammlung von Personenda­ten einhergeht, die nicht wenige Verfassung­sexperten als bedenklich einstufen. Der Rechtsstaa­t ist bis an seine Grenzen gegangen. Aber er hat dem Terror die Stirn geboten.

Am Ende stand die Selbstaufl­ösung der RAF 1998. Bis heute sind viele Verbrechen nicht aufgeklärt. Als gesichert gelten 34 Morde, 27 tote Terroriste­n, 230 Verletzte, 31 Banküberfä­lle, 1500 Verurteilt­e, die der Terrorexpe­rte Butz Peters gezählt hat. Nach den Ex-Mitglieder­n Daniela Klette, Ernst-Volker Staub und Burkhard Garweg wird bis heute gefahndet. Sie stehen im Verdacht, noch immer Raubüberfä­lle zu begehen.

Brigitte Mohnhaupt ist 2007 nach 24 Jahren Haft aus dem Gefängnis entlassen worden. Der Staat, den sie so kaltblütig und gnadenlos bekämpfte, hat ihr eine neue Identität verschafft. Die 68-Jährige lebt heute von Hartz IV. Zum Thema Reue äußert sie sich nicht.

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FOTO: DPA Die RAF veröffentl­ichte mehrere Fotos, die Hanns Martin Schleyer als ihren Gefangenen zeigen.
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FOTO: IMAGO Der Tatort in Köln: Neben dem zerschosse­nen Mercedes der Personensc­hützer Schleyers liegen die Leichen der getöteten Polizisten.
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FOTO: SVEN SIMON Einer der schwersten Momente für Helmut Schmidt. Der Kanzler, der sich nicht erpressen ließ, kondoliert der Witwe Waltrude Schleyer.
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FOTO: DPA Brigitte Mohnhaupt plante die Attentate des Deutschen Herbstes.
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FOTO: IMAGO In diesem Hochhaus in Erftstadt-Liblar blieb Schleyer unentdeckt.

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