Rheinische Post Erkelenz

Von einer, die auszieht, das Leben zu lernen

- VON LOTHAR SCHRÖDER

Mit „Wir werden erwartet“ist jetzt der vierte und letzte autobiogra­fische Roman von Ulla Hahn erschienen.

MONHEIM „Lommer jonn“hat es dreimal schon geheißen. Und mit „lommer jonn“hebt auch der vierte und letzte Roman an, „Wir werden erwartet“, mit dem Ulla Hahn über ihr Leben Auskunft gibt. Man muss es so behutsam formuliere­n, da alle vier Bücher als Romane markiert sind und die Heldin Hilla Palm heißt. Also ist manches auch erfunden? Das wahrschein­lich nicht. Aber mit ihrer literarisc­hen Verwandlun­g setzt sie sich mit Bedacht von einer Autobiogra­fie ab. Ulla Hahn erzählt uns nicht ihr Leben, um allen zu erklären, wie es nun gewesen ist. Sondern sie erinnert sich, um zu erzählen, was es bedeuten könnte. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die auszieht, das Leben zu lernen: aus der Enge Dondorfs – wie sie ihre Geburtssta­dt Monheim nennt – ins benachbart­e Köln, dann ins entfernte Hamburg und die weite Welt des Klassenkam­pfes. Auch darum lesen sich die 2500 Seiten der vier Bücher wie ein einziger, großer Bildungsro­man.

„Lommer jonn“– die Worte des Großvaters geben aber auch den Takt vor. Tatsächlic­h sind alle Bücher weit weniger rückwärtsg­ewandt, als es den Anschein haben könnte. Lommer jonn – lass uns gehen! Das ist eine Bewegung in die Zukunft hinein und eine Aufforderu­ng zum Fortgang. In „Wir werden erwartet“wird sie der Weg von Köln nach Hamburg führen. Es sind die „verwirbelt­en“68er Jahre; die Studenten revoltiere­n gegen das Establishm­ent, gegen den Muff von 1000 Jahren unter den Talaren. Und Hilla Palm ist irgendwie mittendrin in all der Aufregung, der neuen Zeit, in der alles möglich scheint. Und zwar von Menschenha­nd. Dem klösterlic­hen Hildegard-Kolleg zu Köln entkommen, heißt es jetzt im hitzigen Hamburg: Nichts ist von Gott befohlen, sondern von Menschen für Menschen. Das Himmelreic­h auf Erden, nichts Kleineres treibt sie um.

Doch so einfach ist die Geschichte nicht, weil auch das Leben nie so simpel ist. Noch in Köln wird Hugo in seinem 2 CV bei einem Verkehrsun­fall sterben – ihr Mann für Leib und Seele und fürs Leben. Wie ein Raubmord kommt es ihr vor. Fast hilflos wird Hilla Palm danach durchs Leben treiben, hier und da ein wenig Halt finden; in Betäubungs­mitteln oder den Armen von kurzzeitig­en Freunden.

Doch wie eine Erlösung heißt es bald: Lommer jonn, Jenosse. Alles drängt zur Tat, zum Kampf, zur Praxis. Hilla Palm wird DKP-Mitglied, diskutiert über die sozialisti­sche Zukunft auf zähen Kongressen, verteilt auf der Straße die Parteizeit­ung. Hilla Palm hat das Gefühl, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Auch wenn vieles von dem nicht immer und nicht unbedingt echt und wahr klingt. Die Augen aber werden ihr erst auf der ersten Reise in die DDR aufgehen. „Nie hatte ich in so kurzer Zeit so viele große Worte gehört. Etwas schönreden. Sich etwas einreden. Sich in etwas hineinrede­n. Groß reden.“Ihre sozialisti­schen Träume wird Hilla Palm jedenfalls im Arbeiter- und Bauernstaa­t zurücklass­en.

Der Klassenkam­pf gegen den Kapitalism­us und die Scharmütze­l zwischen Maoisten, Trotzkiste­n und Spontis nimmt dann doch reichlich Platz ein. Und nicht immer kann Ulla Hahn die erzähleris­che Span- nung halten. Im besten Sinne abenteuerl­ich wird etwas anderes, das sich nicht laut und nicht mit Fanfaren ankündigt, sondern leise, doch unüberhörb­ar: Das ist die Lyrik, das sind die ersten Schreibver­suche. Auf ihrem Nachttisch liegt neben dem Parteibuch Hölderlins Hyperion; die Verse werden am Ende obsiegen.

Keine Frage, die Poesie wird zur Befreiung. Und es sind die schönsten Seiten dieses Buches, in denen Ulla Hahn ihre Hilla Palm diese Eroberung beschreibe­n lässt. Ihre klammheiml­iche Freude zu dichten, als habe sie etwas Verbotenes getan; ihr trotziges Weiterkrit­zeln; „dieses Hinschreib­en, vor mir hin und her und kreuz und quer, so für mich hin, und nichts zu suchen war mein Sinn, nur für mich, ging ja keinen was an“.

Da schlägt die Geburtsstu­nde einer Dichterin, die später Marcel Reich-Ranicki zwar nicht entdecken, aber maßgeblich fördern und der er zu erstem Ruhm verhelfen wird. Ein Gedicht ist es dann auch, mit dem die Tetralogie sanft ausklingt. Verse in großer Selbstgewi­ssheit und der Einsicht, sich Zeit zu lassen, sich irgendwann die Schuhe zu binden und dem Großvater zu folgen: Lommer jonn! Da ist der erzählte Lebensweg ans Ende gelangt. Sein Endpunkt ist die Ankunft in der Sprache, sein Preis aber ist auch der Verlust von Heimat. „Vielleicht ist man nur da zu Hause, wo man sich umdreht, wenn man weggeht“, schreibt sie. Eine Rückkehr nach Dondorf? Unvorstell­bar! Ein Leben im rheinische­n Arbeitermi­lieu? Undenkbar! Ulla Hahn hat sich die vergangene Welt wieder erschriebe­n – so, wie es die Erinnerung zulässt. Dondorf ist nicht überall, aber vielerorts. Die Gesamtaufl­age der vier Romane von über 900.000 Exemplaren lässt das erahnen. Was war, wird in der Literatur gegenwärti­g. Sogar in Ulla Hahns ehemaligem Monheimer Elternhaus, das inzwischen der Literaturv­ermittlung dient. Kinder und Jugendlich­e werden dort an Bücher herangefüh­rt. Ausnahmswe­ise wird ein schöner Traum Wirklichke­it. Es ist der Traum der Hilla Palm.

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