Abgrund
Alberto schüttelte den Kopf und spülte seinen letzten Happen mit einem Schluck Saft hinunter. „In Argentinien käme man ins Gefängnis, wenn man so etwas servieren würde“, brummte er, nicht ohne einen vorsichtigen Blick in Richtung Küche zu werfen, wo der Kapitän und zwei Besatzungsmitglieder am Tresen standen und aßen. Dem Koch, der kaum Englisch verstand, sollte seine Bemerkung natürlich nicht zu Ohren kommen. Schiffsköche waren entscheidend für die Stimmung an Bord. Man musste sie bei Laune halten. Unbeirrt nahm er ein zweites Stück Fleisch in Angriff. „Solange Aiptasia so dichte Bestände bildet, wird sich nichts ändern, fürchte ich. Alles, was sich hier auf den Felsen ansiedeln könnte, endet in ihren Tentakeln. Man müsste sie an ausgewählten Stellen beseitigen, um zu prüfen, ob die Algen zurückkommen oder was sich stattdessen ansiedelt.“
„Super Idee“, sagte Dieter. „Hast du Geld? Und die Leute dafür? Außerdem funktioniert das so nicht. Der Teppich würde sich innerhalb kurzer Zeit wieder schließen. Aiptasia vermehrt sich einfach zu schnell.“
„Ungeschlechtlich, nehme an“, sagte Hermann.
„Ja, sie schnüren sich einfach der Länge nach durch. Aus eins mach zwei. Wie die Pantoffeltierchen.“
Hermann seufzte, zog den Teller zu sich heran und tat sich Kartoffeln, Soße und Salat auf. Auf das Fleisch verzichtete er.
„Die Fischer hätten eben nicht alle Seegurken wegfangen dürfen. Vielleicht hätten sie diese Massenvermehrung verhindert“, sagte Alberto. „So etwas wie da unten ist ty-
ich pisch für Ökosysteme, aus denen man entscheidende Akteure entfernt hat. Die Seegurkenfischerei, die hier betrieben wurde, war schlicht Wahnsinn. Der Boom hat viele arme Fischer von der leer gefischten Festlandküste erst auf die Inseln gelockt. Und dann haben sie hier innerhalb weniger Jahre mehr als acht Millionen Seegurken aus dem Meer geholt. Acht Millionen! Ohne die Populationsgröße zu kennen, ohne zu wissen, wie schnell die Tiere wachsen und sich vermehren. Die Regierung hat natürlich Fangquoten festgelegt, aber später hat man herausgefunden, dass sie viel zu hoch angesetzt waren, und daran gehalten hat sich ohnehin niemand. Die Fischer behaupteten immer, im tieferen Wasser, wo sie die Tiere nicht einsammeln könnten, gäbe es viel mehr Seegurken, so dass die Bestände sich von da aus wieder erholen würden. Heute wissen wir, dass es genau umgekehrt ist. Die Leute haben nicht richtig hingeschaut oder bewusst gelogen. Es ist nie um etwas anderes als das schnelle Geld aus Asien gegangen. Und das Schlimmste ist, dass dieser Wahnsinn jetzt schon wieder losgeht, obwohl die Bestände sich noch nicht erholt haben.“
„Du sprichst von dem neuen Vertrag.“
„Ja. Ich weiß nicht, was die Nationalparkverwaltung geritten hat, aber sie hat mit den Fischern und dem Ministerium eine Vereinbarung über die Entnahme von einer halben Million Seegurken getroffen. Ich fürchte, sie haben vor den ewig jammernden Fischern einfach den Schwanz eingezogen. So- lange viel Geld im Spiel ist und die Asiaten den Hals nicht vollkriegen, wird das wohl so weitergehen. Thunfische, Haie, Seegurken – die fressen buch- stäblich die Weltmeere leer.“– „Dann hat sich ja hier nicht viel geändert“, sagte Hermann.
„Die Schildkröten sind auch gern verspeist worden. Und jetzt fehlen sie.“
„Das stimmt“, sagte Dieter. „Ohne Schildkröten verändert sich die ganze Vegetation der Inseln. Sie verbreiten die Kaktussamen.“Er wandte sich seinem Tischnachbarn zu. „Aber du machst es dir zu einfach, Alberto. Sicher hat die Seegurkenfischerei Schaden angerichtet, entscheidend waren aber die warmen Wassermassen des El Niño Ende der Neunziger. Warme Strömungen haben den Algengemeinschaften schon immer zugesetzt, diesmal aber hat Aiptasia die Lücke gefüllt, bevor die Algen sich erholen konnten. Andere Riffe wurden von Krustenalgen besiedelt und sind jetzt eine einzige Seeigelwüste. Fünfzig Tier- und Algenarten der alten Felsriffe sind vom Aussterben bedroht.“
„Ja, ja, ich kenne diese Argumente“, antwortete Alberto mit finsterem Gesicht. „Klimaschwankungen hat es ja auch schon immer gegeben, aber heute haben wir es wirklich mit neuen Qualitäten zu tun, mit Veränderungen in nie gekannter Geschwindigkeit. Und selbst El Niños gibt es seit Jahrtausenden, aber sie treffen heute nicht mehr auf intakte, sondern hochgradig gestörte Riffe. Und dazu noch der Overkill der Fischerei, das ist für die Lebensgemeinschaften einfach zu viel.“
Hermann hatte aufgegessen und lehnte sich zurück. „Wie reagieren denn die Meeresleguane?“
Dieter zuckte die Achseln. „ElNiño-Jahre sind für die seit jeher Krisenzeiten gewesen. Viele überleben den Nahrungsmangel nicht. Ob sich das verschlimmert hat, weiß ich nicht. Aber es ist wohl zu befürch- ten.“– Alberto hatte aufgegeben. Die Hälfte des Fleisches war auf seinem Teller liegengeblieben, und er sprach nun dem Kuchen zu, den der Koch gebacken hatte. „Die Hunde fressen sie. Überall da, wo Menschen siedeln, laufen auch Hunde herum, und die Iguanen kapieren einfach nicht, von wem ihnen Gefahr droht. Sie bekommen noch nicht mal Herzklopfen, wenn die Köter sich ihnen nähern. Bis sie ihre Zähne zu spüren bekommen. Die Cleversten sind sie nicht gerade. Das ist schon Darwin aufgefallen.“
„Ja, er verabscheute sie.“In Vorbereitung ihrer Reise hatte Hermann noch einmal das GalápagosKapitel in Darwins Die Fahrt der Beagle gelesen. „Er fand sie dumm, hässlich und träge. ,Ihr Fleisch mögen diejenigen, deren Magen sich über alle Vorurteile erhebt’, schrieb er.“
Sie lachten, froh darüber, endlich ein anderes Thema gefunden zu haben.
„Das gilt auch für das hier“, flüsterte Alberto verschwörerisch und deutete auf die Fleischreste auf seinem Teller. „Kulinarisch hat Galápagos wirklich nicht allzu viel zu bieten, fürchte ich, von den Fischen mal abgesehen. Aber Darwin hat alles probiert.“
„Er hat sogar darüber geschrieben, als gehörten Geschmackstests zu seinen Aufgaben als Naturforscher.“
„Stell dir mal vor, wir würden das machen, einfach alles verspeisen, was hier kreucht und fleucht. Mein Gott, was dann los wäre . . .“
Von draußen waren plötzlich aufgeregte spanische Rufe zu hören. Kurz darauf drosselte der Kapitän den Motor.
(Fortsetzung folgt)