Rheinische Post Erkelenz

Die Gegenwart mitschreib­en: US-Autorin Lillian Ross ist tot

- VON PHILIPP HOLSTEIN

NEW YORK Im Jahr 1950 begleitete sie als Reporterin die Dreharbeit­en zum Film „Die rote Tapferkeit­smedaille“. Lillian Ross setzte sich zum Filmteam und ging nicht mehr weg, sie machte sich unsichtbar, und Regisseur John Huston nahm sie irgendwann gar nicht mehr wahr. Ihr Bericht erschien 1952 als Buch mit dem Titel „Picture“: Es war ein Abgesang auf das alte Hollywood, dem gierige Studioboss­e alles Traumhafte ausgetrieb­en hatten. Es besiegelte das Ende eines Mythos.

Mit diesem Buch hat die 34 Jahre alte Autorin des US-Magazins „New Yorker“die literarisc­he Welt verändert. Kollegen wie Norman Mailer, Tom Wolfe und Hunter S. Thompson wollten plötzlich schreiben wie diese Frau: interessie­rt, persönlich und mit leicht spöttische­m Tonfall. Ross benutzte nie ein Diktierger­ät, sie hörte bloß zu und lauerte auf das Zitat, das alles verrät. Als Truman Capote 1965 seine Fakten-Erzählung „Kaltblütig“herausbrac­hte, hatte er sich dessen Form bei Lillian Ross geborgt: Sie gilt als Erfinderin des Tatsachenr­omans.

Ross gehörte 70 Jahre lang zu den Größen des intellektu­ellen Amerika. Im „New Yorker“veröffentl­ichte sie legendäre Stücke, etwa das über ihre Begegnung mit Hemingway. Darin wird er als schlimmer Schwadrone­ur beschriebe­n, der seine Kumpel-Freundin Marlene Dietrich auf einen Drink trifft und sie immerzu „The Kraut“nennt. Hemingway indes gefiel es; er und Ross blieben ein Leben lang befreundet.

Ross war eine der wenigen, die ständigen Kontakt zum abgetaucht­en Literatur-Phantom J. D. Salinger hielt. Und sie war stets am Neuen interessie­rt: Als sie über den Regisseur Wes Anderson schrieb, war sie bereits über 80. Einer ihrer besten Texte entstand in den 90er Jahren und handelt von den Codes der Privatschü­ler an der Upper East Side.

Ross’ Art zu erzählen, inspiriert­e Schriftste­ller und Journalist­en. Nun ist sie an einem Herzinfark­t gestorben. Sie wurde 99 Jahre alt.

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