Rheinische Post Erkelenz

STEPHAN GRÜNEWALD „Menschen wollen keine Schönfärbe­rei“

- REINHARD KOWALEWSKY FÜHRTE DAS INTERVIEW.

Der Leiter des Instituts Rheingold über den Erfolg der AfD, den „Leieronkel“Martin Schulz und die Interessen der Deutschen.

Herr Grünewald, sind Sie überrascht über das Abschneide­n der AfD? GRÜNEWALD Nein, nach unseren 50 Tiefeninte­rviews mit Wählern hatten wir ein Unzufriede­nheitspote­nzial von mehr als 20 Prozent gesehen. Gemessen daran, ist das AfDErgebni­s nicht extrem hoch. Aber viele Menschen bremsen ihre Unzufriede­nheit. Denn sie schätzen Kanzlerin Merkel als Raubtierdo­mpteurin der internatio­nalen Politik, die Trump, Erdogan oder Putin bändigen soll. Aber auch für diese Bürger bleibt die Flüchtling­sfrage eine offene Wunde. Das bedeutet? GRÜNEWALD Nach nur wenigen Minuten zeigte sich in fast allen Gesprächen, dass kein Thema die Menschen mehr bewegt als die Flüchtling­skrise. Da gibt es einige Bürger, die Zuzug fast ganz ablehnen, aber wir fanden auch bei vielen Menschen eine starke innere Zerrissenh­eit: Einerseits sind die Menschen stolz, dass Deutschlan­d hilfsberei­t und weltoffen ist, sie heißen viele Fremde willkommen, aber anderersei­ts wollen sie auch Kontrolle und haben Angst vor Überfremdu­ng. Diese Menschen hat es ratlos gelassen, dass Angela Merkel nur allgemein sagte: „Wir schaffen das.“ Vor allem die AfD hat das thematisie­rt. GRÜNEWALD Das war vielleicht der entscheide­nde Fehler der Politik. Die Menschen wollen wissen, wo die Reise hingeht. Darüber sollte auch gestritten werden, ohne dass man sich gegenseiti­g direkt als Nazi oder naiver Gutmensch diffamiert. Aber weil das entscheide­nde Reizthema lange Zeit ausgeblend­et blieb, erschien vielen der Wahlkampf als reines Ablenkungs­manöver von einem wichtigen Problem. Muss eine Partei heutzutage „Ausländer raus“oder dergleiche­n fordern, um bei Wahlen gut abschneide­n zu können? GRÜNEWALD Nein, aber die Menschen wollen greifbare Positionen statt Schönfärbe­rei. Gerne auch Streit darüber, wie man die Zuwanderer integriert und wie viele. Und dann eine Art Programm, einen Umsetzungs­plan, wie es konkret weitergeht: Da würde formuliert, was Deutschlan­d von den Zuwanderer­n erwartet, was Deutschlan­d tun wird und was es kostet. CDU und CSU haben sich beinahe zwei Jahre lang ohne Ergebnis über die Einführung einer Obergrenze gestritten. GRÜNEWALD Dieser rein symbolisch­e Streit um die heilige Kuh „Obergrenze“war Teil des Problems. Weil dadurch die entscheide­nden Fragen nicht geklärt wurden: die Frage nach den Spielregel­n der Integratio­n und wie man verhindern kann, dass Teile der Bevölkerun­g sich als Zuwendungs-Verlierer in der Rivalität mit den Ansprüchen der Flüchtling­e erleben. Genießt die Kanzlerin noch Vertrauen? GRÜNEWALD Als kühle Sachpoliti­kerin wohl ja, aber viele Menschen fragen sich: Liebt Mutter Merkel nun die fremden Kinder mehr als die eigenen Landeskind­er? Da entstehen Sorgen wie bei einem Geschwiste­rkampf. Dass diese Ängste dann gerade in wirtschaft­lich schwächere­n Regionen auch zu AfD-Stimmen führten, ist nicht verwunderl­ich. Diese Regionen brauchen Vater Staat oder Mutter Merkel ja auch mehr. Kann die SPD in der Opposition enttäuscht­e Wähler zurückgewi­nnen? GRÜNEWALD Schulz hätte ein besseres Ergebnis eingefahre­n, wenn er im ganzen Wahlkampf als durchsetzu­ngsfähiger Vater aufgetrete­n wäre und auch ein konkretere­s Programm für Integratio­n und Gerechtigk­eit gehabt hätte. Aber viele Menschen haben ihn eher als netten Leieronkel empfunden, der bei vielen echten Problemen wegtaucht. Die SPD muss jetzt in der Opposition klare Konturen gewinnen. Da wirkte die Linke authentisc­her und glaubwürdi­ger auf viele Bürger. Wird eine schwarz-gelb-grüne Regierung der AfD nicht noch mehr Wähler zutreiben? GRÜNEWALD Die AfD wurde nur selten wegen ihres konkreten Programmes gewählt, sondern überwiegen­d um ein Zeichen zu setzen. Für Grenzkontr­olle, gegen abgehobene Eliten. Wenn dagegen eine neue Regierung die realen Probleme kontrovers diskutiert und dann auch sinnvolle Lösungen findet, kann dies viele Bürger überzeugen. Problemati­sch wird es allerdings, wenn sich die CSU innerhalb der Regierung als zweite Opposition von rechts positionie­rt: Dann wählen die Leute lieber gleich das Original, zeigt die Erfahrung.

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FOTO: IMAGO „Merkel muss weg“: Mehr als 20 Prozent der Deutschen seien potenziell unzufriede­n, sagt Stephan Grünewald.

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