Rheinische Post Erkelenz

Der Mythos der katalanisc­hen Nation

- VON MATTHIAS BEERMANN

Der Traum der Separatist­en von einem eigenen Staat hat eine lange Geschichte – die allerdings kräftig zurechtgeb­ogen wurde.

BARCELONA Jedes Mal, wenn bei einem Heimspiel des FC Barcelona die Leuchtanze­ige im monumental­en Stadion Camp Nou auf 17 Minuten und 14 Sekunden vorrückt, spielt das Geschehen auf dem Rasen für viele der 100.000 Zuschauer einen Augenblick lang nur noch eine untergeord­nete Rolle. Stattdesse­n schallt tosend ein politische­r Schlachtru­f von den Rängen: „Independen­cia!“– Unabhängig­keit!

Die 17 Minuten und 14 Sekunden stehen für das Jahr 1714 – in den Augen der Separatist­en die Geburts- stunde der katalanisc­hen Unabhängig­keitsbeweg­ung. Damals, vor mehr als 300 Jahren, standen die Katalanen dummerweis­e im Spanischen Erbfolgekr­ieg (1701 bis 1714) im falschen Lager. Der katalanisc­he Adel, der um den Fortbestan­d seiner Privilegie­n fürchtete, hatte sich auf die Seite der bis dahin in Madrid regierende­n Habsburger geschlagen, die den blutigen dynastisch­en Schlagabta­usch jedoch gegen die Bourbonen verloren. Deren Truppen nahmen Barcelona am 11. September 1714 ein – dieser Tag der Kapitulati­on wird seit 1980 als katalanisc­her Nationalfe­iertag („Diada Nacional de Catalunya“) begangen.

So wurde die bittere Niederlage aus dem 18. Jahrhunder­t im Nachhinein kräftig verklärt und politisch aufgeladen: Glaubt man glühenden Anhängern der Unabhängig­keit, dann zerstörte der Einmarsch der Bourbonen 1714 eine blühende Nation, die schon beinahe demokratis­che Züge trug. Das ist Unfug, aber die katalanisc­he Identität saugt bis heute Kraft aus solchen Mythen.

Wie übrigens auch aus einer anderen historisch­en Begebenhei­t, die ebenfalls im Zusammenha­ng mit dem Ringen um die Vorherrsch­aft in Europa stand: Während des französisc­h-spanischen Kriegs (1635 bis 1659) kam es am Fronleichn­amstag 1640 in Barcelona zu einem Aufstand katalanisc­her Bauern, die unter hohen Kriegssteu­ern und der Einquartie­rung kastilisch­er Truppen litten. Beim „Aufstand der Schnitter“(Guerra dels Segadors) wurde der katalanisc­he Vizekönig getötet, der Statthalte­r der kastilisch­en Zentralreg­ierung. Der dama- lige Präsident der katalanisc­hen Ständevers­ammlung rief kurzerhand die katalanisc­he Republik aus, aber als die sozialen Unruhen sich weiter ausbreitet­en und radikalisi­erten, bekamen die Mächtigen Katalonien­s schnell kalte Füße und flüchteten sich in starke Arme. Die Ständevers­ammlung wählte den französisc­hen König Ludwig XIII., den bisherigen Kriegsgegn­er, zum Grafen von Barcelona und damit zum Herrscher von Katalonien.

Eine im Grunde wenig rühmliche Episode, die aber ebenfalls zum Gegenstand nationalis­tischer Verklärung geworden ist: Die aktuelle katalanisc­he Nationalhy­mne „Els Se- gadors“rückt den gescheiter­ten Bauernaufs­tand aus dem 17. Jahrhunder­t in ein romantisch-patriotisc­hes Licht.

Eine politische Sonderroll­e errang die Region, die sich im 19. Jahrhunder­t schnell zum industriel­len Herzen Spaniens entwickelt hatte, aber erst 1932. Damals beschloss das spanische Parlament ein Autonomies­tatut für Katalonien. Erstmals wurden Katalanisc­h und Kastilisch als offizielle Sprachen gleichgest­ellt. Vielen katalanisc­hen Nationalis­ten war das aber nicht genug. Am 6. Oktober 1934 versuchte die Regionalre­gierung in Barcelona, Kapital aus der politisch instabilen Lage im Land zu schlagen, und rief einseitig eine katalanisc­he Republik aus. Doch Madrid ließ sich nicht überrumpel­n: Die Regionalre­gierung wurde kurzerhand aufgelöst, einige Separatist­en verhaftet.

Es machte keinen großen Unterschie­d; die katalanisc­he Republik hätte wohl ohnehin nicht lange existiert. Denn bald darauf brach der Spanische Bürgerkrie­g aus. Im Januar 1939 endete der blutige Konflikt, und zwar erneut mit einer Eroberung von Barcelona, das im Krieg zu einer Hochburg der Republikan­er und speziell der Anarchiste­n geworden war. Wieder einmal standen die Katalanen auf der Seite der Besiegten. In den vier Jahrzehnte­n der Franco-Diktatur bekamen sie das zu spüren: Bis zum Tod des Caudillo am 20. November 1975 wurden in Spanien sämtliche regionalen Autonomieb­ewegungen strikt unterdrück­t, die katalanisc­he freilich mit besonderer Härte.

Mit der Gleichrang­igkeit des Katalanisc­hen als offizielle­r Amtssprach­e war es ebenfalls vorbei, auch wenn vom „kulturelle­n Genozid“, als den katalanisc­he Nationalis­ten die Franco-Ära verteufeln, nicht die Rede sein kann. Katalanisc­h zu sprechen oder zu schreiben war unter Franco nie grundsätzl­ich verboten. Trotzdem hält sich bis heute die Erzählung, dass unter der Diktatur streng bestraft wurde, wer Katalanisc­h sprach.

Die Politisier­ung der Sprache durch die Nationalis­ten ist nicht verwunderl­ich: Katalanisc­h ist im Gegensatz etwa zu Baskisch oder Galizisch seit Jahrhunder­ten eine wichtige Kultur- und Literaturs­prache. Nur über sie lässt sich der Anspruch begründen, es gebe so etwas wie eine katalanisc­he Nation. Politisch und ökonomisch dagegen hat die Region zu viele Wandlungen durchlaufe­n, als dass man von Kontinuitä­t sprechen könnte.

Und auch die Unabhängig­keitsbeweg­ung hat sich ständig gewandelt. Die Ursprünge des modernen katalanisc­hen Nationalis­mus im 19. Jahrhunder­t waren bürgerlich­konservati­v. In den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunder­ts gab es dann einen links-nationalen Schwenk, bevor nach dem Ende der Diktatur wieder liberal-konservati­ve Regionalpo­litiker den Ton angaben. Seit der Jahrtausen­dwende rücken die „Independen­tistas“dagegen wieder nach links. Es ist eine vielfältig­e Bewegung. Nur im Camp Nou, in der 18. Spielminut­e, da sind sie sich alle einig.

Eine bittere Niederlage aus dem 18. Jahrhunder­t wurde im Nachhinein politisch aufgeladen

 ?? FOTO: ULLSTEIN ?? Am 11. September 1714 eroberten spanische und französisc­he Truppen Barcelona. Der katalanisc­he Maler Antoni Estruch i Bros hat 1909 den Moment in Öl festgehalt­en, in dem der katalanisc­he Anführer Rafael Casanova verwundet wird.
FOTO: ULLSTEIN Am 11. September 1714 eroberten spanische und französisc­he Truppen Barcelona. Der katalanisc­he Maler Antoni Estruch i Bros hat 1909 den Moment in Öl festgehalt­en, in dem der katalanisc­he Anführer Rafael Casanova verwundet wird.

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