Abgrund
Dann hörte sie die Stimmen und merkte, dass sie Deutsch sprachen. Sie erkannte David, und danach war es nicht schwer zu erraten, wem die weibliche Stimme mit dem herrlichen holländischen Akzent gehörte. Ihr erster Impuls war, aus der Deckung herauszutreten und Lieke und David zu begrüßen, doch dann zögerte sie. Die beiden hatten sich nach dem Trubel des Vormittags hierher zurückgezogen, genau so, wie sie das vorgehabt hatte, und es wäre nicht sehr nett gewesen, sie zu stören. Also würde sie sich schweren Herzens einen anderen Platz suchen müssen. Sie konnte aber nicht ungesehen an dem Paar vorbei. Auch wenn sie unten am Wasser weiterliefe, würden die beiden sie sehen, und um ihre Zweisamkeit wäre es geschehen. Plötzlich schnappte Anne Worte auf, die so drängend waren, dass sie sie augenblicklich gefangen nahmen und in eine heimliche Zuhörerin verwandelten. Es gab kein Zurück mehr. „David, rede mit mir! Bitte! Du bist so anders in den letzten Tagen. Ich hab das Gefühl, ich kenne dich kaum noch.“
Zunächst hatte es nicht den Anschein, als wollte David überhaupt auf Liekes Bitte reagieren, denn es folgte ein langes Schweigen. Doch dann setzte er mehrmals zu sprechen an, und schließlich brach es aus ihm heraus: „Ich . . . ich . . . Mann, Lieke, ich weiß einfach nicht, wie ich das ertragen soll. Ich habe richtig Schei . . .
David versagte die Stimme, und Anne wagte kaum, Luft zu holen.
„Ist was mit deiner Arbeit? Oder geht es um unsere Flugblattaktion?“
„Nein, ich hab z . . .“Wieder brach David ab, und seine Stimme zitterte verdächtig. Weinte er etwa?
„Sag mir doch bitte, was dich so fertigmacht. Wie soll ich dir sonst helfen? Geht es um diese Bootstypen? Um die Schlägerei?“
„Ich . . . ich muss nur die Augen zumachen, dann sehe ich ihre Gesichter vor mir, hassverzerrt. Ich habe so etwas noch nie erlebt. Ich hatte wirklich Angst gestern, ich dachte, die bringen uns um.“
„Ach, David, Liebling, es tut mir so leid. Du brauchst einfach ein bisschen mehr Zeit. Du musst Abstand gewinnen. Dass die so reagieren, konnte doch echt niemand wissen. Aber Reinhardt hatte wohl recht, wir haben nur an die Touristen gedacht, nicht an die Einheimischen. Für die geht es um die Existenz, nicht nur um ein paar Ferientage. Die haben gleich gedacht, wir wollen ihnen an den Kragen, wollen ihre Lebensgrundlage zerstören.“
Von David war nur ein Schniefen zu hören, während Lieke noch immer sanft auf ihn einredete. „Wir dürfen uns dadurch nicht von unserem Weg abbringen lassen, David. Wir müssen uns einfach weiter engagieren und weiter forschen. Was denn sonst? Einen anderen Weg gibt es nicht.“„Vielleicht schon.“„Welchen denn?“„Ich weiß nicht. Irgendwie muss man die Leute doch aufrütteln. Oder sollen wir etwa weiter still unsere Daten sammeln und die Welt mit unseren Ergebnissen verschonen? Weil uns eh niemand zuhört oder wir im schlechtesten Fall noch für unsere Wahrheiten zusammengeschlagen werden?“
„Das klingt furchtbar, ich weiß. Aber ein bisschen ist es doch so. Sonst würden wir diesen Kampf schon jetzt verlorengeben. Wir müssen versuchen zu verstehen, was ge- nau vor sich geht, wie die Natur auf die globalen Entwicklungen reagiert. Damit wir vielleicht Gegenmaßnahmen treffen können. Und vielleicht stellen wir in manchen Fällen sogar fest, dass es gar nicht so schlimm kommt, wie wir befürchten. Denk an die Korallenriffe. Wenn wir Glück haben, können sie mehr verkraften als gedacht.“
„Wenn sie Glück haben“, korrigierte David. „Es geht nicht um uns.“
„Ja, natürlich. Du verstehst doch, was ich meine. Außerdem muss das Sterben belegt werden, Art für Art. Und das können nur wir. Ein schrecklicher Job, aber wichtig. So wird später wenigstens niemand behaupten können, wir hätten nichts gewusst.“
„Ob du’s glaubst oder nicht, aber das ist das erste gute Argument, das ich höre. Wir brauchen nämlich wirklich eine neue Wissenschaft, eine Wissenschaft vom Aussterben. Wenn uns in Zukunft jemand fragt, was wir gemacht haben, können wir sagen, wir waren Defaunationsbiologen, wir haben den Niedergang der Tiere für die Nachwelt protokolliert. Wirklich ein beschissener Job, aber jemand muss ihn ja übernehmen. Dann wären wir so was wie die biologische Entsprechung der Gerichtsmediziner, wir ermitteln Todesursachen und führen Aussterbelisten. Boah, das ist doch alles zum Kotzen.“„Hätte ich’s nur nicht gesagt.“„Nein, du hast ja recht. Genauso sieht es aus.“
Davids Sarkasmus schien Lieke die Sprache verschlagen zu haben. Für ein, zwei Minuten schwiegen sie.
„Ist dir eigentlich klar, dass ich morgen auf dieses Scheißschiff muss?“, fragte David plötzlich.
„Echt? Nee, das hatte ich ganz vergessen. Wirklich, morgen schon?“Das schien ihr gar nicht zu schmecken, und niemand verstand das besser als Anne. Aber Lieke fiel etwas ein, das ihre Stimmung merklich aufhellte. „Wenn ich es mir recht überlege . . . gutes Essen, frische Seeluft, tolle Landschaften. Kommt das für dich nicht genau zur richtigen Zeit? Erklär den Leuten, was du weißt, halte deine Vorträge. Das wird dich auf andere Gedanken bringen.“
„Das Letzte, worauf ich grad Lust habe, sind diese Idioten . . .“
„Ach, komm. Wieso Idioten? Da sind immer auch nette Leute dabei. Du musst es so sehen: Du machst im Kleinen, was wir am Hafen im Großen versucht haben. Überzeuge sie, einen nach dem anderen. Ich weiß, du kannst das.“David brummte missmutig. „Ich mein’s ernst. Das ist genau das, was du jetzt brauchst, David. Du magst es doch, wenn die Leute dir zuhören, oder? Du stehst gerne im Mittelpunkt.“„Was soll denn das jetzt heißen?“Lieke lachte. „Ich sag nur, wie’s ist. Du wirst bestens gelaunt sein, weil alle an deinen Lippen hängen, von morgens bis abends, besonders die Frauen natürlich. Aber pass auf, du darfst es mit den Aussterbeszenarien nicht übertreiben. Sonst verschreckst du sie. Frauen sind mehr dem Leben zugewandt, weißt du? Fährst du eigentlich allein?“„Nein.“„Wer fährt denn mit?“„Isabelle.“„Was? Das sagst du mir jetzt? Wie ist es denn dazu gekommen?“
„Zufall. Du hättest dich ja auch bewerben können.“
(Fortsetzung folgt)