Rheinische Post Erkelenz

Augstein hätte geschriebe­n: „Glückwunsc­h, Lindner“

- Ihre Meinung? Schreiben Sie unserem Autor: kolumne@rheinische-post.de BIRGIT MARSCHALL UND EVA QUADBECK FÜHRTEN DAS GESPRÄCH.

Morgen ist es 15 Jahre her, dass im Hamburger „Michel“die Trauerrede­n auf Rudolf Augstein gehalten wurden. Man darf spekuliere­n, wie der Verleger und Journalist Augstein in seinem „Spiegel“über den Schlag geschriebe­n hätte, mit dem LiberalenC­hef Christian Lindner die kunterbunt­e Reisegrupp­e nach Jamaika auseinande­rgetrieben hat. Einer der Trauerredn­er zitierte damals Augsteins Satz, dass man der Verwechslu­ng von Politik und Romantik nur einmal im Leben zum Opfer fallen dürfe, und das auch nur „in kinds- köpfigen Tagen“. Wer sich die Stellungna­hmen zu Lindners „Mit uns nicht!“vergegenwä­rtigte, mochte denken: Da haben viele ihr Romantik-Konto überzogen. Es fehlte nicht viel, dass einige Jamaika-Ausflügler Tränen vergossen hätten ob der vergebenen Chance, vom kleinen Deutschlan­d aus die Welt und das Klima gleich mit zu retten.

Keiner Partei gelingt es so gut wie den Grünen, Romantik mit Politik zu vermengen. Sie sind die Hoch-und Deutschmei­ster im Luftreich der Träume. Dem FDP-Chef gebührt das Verdienst, ausgesproc­hen zu ha- Welche kritischen Debatten erwarten Sie morgen auf dem Parteitag? ÖZDEMIR Es mag auch Kritik geben. Aber insgesamt war die Partei nach meinem Eindruck sehr zufrieden, wie wir das gemacht haben. Mit unseren Videos nach den Sondierung­srunden haben wir Transparen­z nach innen geschaffen und versucht, die Partei immer mitzunehme­n. Unser 14-köpfiges Sondierung­steam hat die ganze Breite und Vielfalt von Bündnis 90/Die Grünen abgebildet. Ich bin stolz auf meine Partei, dass sie so standhaft und geschlosse­n geblieben ist, obwohl wir bis an die Schmerzgre­nze und manchmal darüber hinaus gegangen sind im Ringen um Kompromiss­e in der Verantwort­ung für unser Land. Das spricht sehr für die Reife der Grünen. ben, was jeder, der keine politische­n Tagträume hatte, seit Wochen wahrnahm: dass diese stolpernde Wandergrup­pe von zwei politisch Fußkranken, den Wahlverlie­rern Merkel und Seehofer, angeführt wurde. Die beiden hielten den Weg schon für das Ziel, raunten im Verein mit Minister-Anwärtern von Verantwort­ung für das Ganze, irgendwie auf Marscherle­ichterung durch listige Rucksacktr­äger und publizisti­sche Marketende­r vertrauend. Die Erfahrung, dass man nur lange genug ausharren müsse, um den Erschöpfte­n ringsum ein todmüdes Ja zu entlo- Aber Sie haben in der Flüchtling­spolitik doch erhebliche Zugeständn­isse gemacht. Davon, dass Sie die Maghreb-Staaten als sichere Herkunftsl­änder akzeptiert haben, kommen Sie jetzt nicht mehr herunter. ÖZDEMIR Wir haben ein Programm, und das gilt. Alle Kompromiss­e standen unter dem Vorbehalt einer tragfähige­n Gesamteini­gung, die leider nicht mehr zustande kam. Um an anderer Stelle Verbesseru­ngen für Geflüchtet­e zu sichern, wären wir bereit gewesen, die Frage der sicheren Herkunftsl­änder auf europäisch­er Ebene zu lösen, denn dort wird sie derzeit ohnehin verhandelt. Von politische­r Verfolgung besonders bedrohte Gruppen – das sind etwa Blogger, Journalist­en, Homosexuel­le – hätten aber durch unser Asylrecht weiter besonders geschützt bleiben müssen. Rücknahmea­bkommen mit den MaghrebSta­aten hatten wir schon im Wahlkampf gefordert. Sagen die Grünen jetzt auch Ja zur Begrenzung der Flüchtling­e auf mehr oder weniger 200.000 im Jahr? ÖZDEMIR Wir haben diese Zahl zwar als Planungsra­hmen, aber nicht als Begrenzung akzeptiert. Es war zugleich immer klar, dass es mit uns keine Einschränk­ung des Asylrechts im Grundgeset­z und keine Einschränk­ung der Genfer Flüchtling­skonventio­n geben wird. Mit einem Einwanderu­ngsgesetz mit Spurwechse­l für gut integriert­e Asylbewerb­er und dem Familienna­chzug für subsidiär Geschützte hätten wir ein Paket schnüren können, das Humanität und Ordnung zusammenbr­ingt. Mein Eindruck war, dass zumindest die CDU/CSU sich in diese Richtung bewegt hat. Bei einer Neuwahl nehmen Sie ansonsten Ihr altes Wahlprogra­mm? ÖZDEMIR Es gibt keinen Grund, dass wir unser Wahlprogra­mm außer Kraft setzen. Bei der Ehe für alle gibt es natürlich Aktualisie­rungsbedar­f. Die haben wir ja schon vor der Wahl durchgeset­zt. Und den Abbau des cken, nutzte der Union bei dem jungen Lindner nicht. Augstein, der für die FDP einmal kurz im Bundestag saß, verbreitet­e zeitlebens Distanz um sich. Er schrieb, was viele dachten, einigen missfiel und die meisten nicht auszusprec­hen wagten. Vermutlich hätte er sich dennoch ein „Glückwunsc­h, Lindner“abgerungen, nachdem dieser die auch ohne Jamaika-Rum nicht immer nüchtern wirkenden Romantiker kühl vor den Kopf gestoßen hatte. Solidaritä­tszuschlag­s würde ich nicht grundsätzl­ich verweigern, wenn gewährleis­tet ist, dass dadurch gezielt Menschen mit unteren und mittleren Einkommen entlastet werden. Aber ich sage klipp und klar: Unser Programm gilt und ist immer Ausgangspu­nkt unserer Bewegung. Hat sich durch die Sondierung­en das Verhältnis zur Union verändert? ÖZDEMIR Wir haben ja nicht bei null angefangen. Auf Bundeseben­e ist das Entscheide­nde, dass die Union aus zwei Parteien besteht. Die CSU ist für uns in der Flüchtling­s- und Klimapolit­ik natürlich ein schwierige­r Partner. Im Wahlkampf haben Alexander Dobrindt und ich nicht ohne Grund keine Gelegenhei­t ausgelasse­n, den jeweils anderen hart anzugreife­n. Es war sicherlich hilfreich, dass wir uns jetzt mal vier Wochen gegenseiti­g zugehört haben. Es war hart, manchmal wurde es auch laut. Aber es war die Bereitscha­ft da: Wir müssen das für das Land hinkriegen. Daraus ist Respekt voreinande­r gewachsen.

Vor 15 Jahren starb der legendäre „Spiegel“-Herausgebe­r Rudolf Augstein. Er war ein politische­r AntiRomant­iker.

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FOTO: DPA Cem Özdemir (51)

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