Rheinische Post Erkelenz

Jeder fünfte Schüler braucht Behandlung

- VON KURT LEHMKUHL

Bodo Müller, Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie am Marien-Hospital in DürenBirke­sdorf, referierte vor vielen Eltern und Pädagogen über psychische Erkrankung­en von Kindern und Jugendlich­en.

ERKELENZ Dramatisch­e Zahlen nannte Bodo Müller, Chefarzt und Ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsyc­hiatrie, Psychosoma­tik und Psychother­apie des MarienHosp­itals in Düren-Birkesdorf, als er in seinem Vortrag „Anders als andere Kinder – und jetzt?“über Kinder und Jugendlich­e mit seelischen Erkrankung­en sprach. Rund zwölf Prozent der Kinder seien behandlung­sbedürftig: „In jeder Klasse gibt es auffällige Kinder.“Jeder fünfte Schüler sei betroffen.

Der Vortrag von Müller diente als Einstieg in eine Diskussion, bei der sich Eltern, pädagogisc­he Fachkräfte, Verwaltung­smitarbeit­er und Fachleute im Foyer der Stadthalle Erkelenz über die Problemati­k der seelischen Erkrankung­en bei Kindern und Jugendlich­en austauscht­en. Die Veranstalt­ung war Teil eines Pilotproje­ktes, bei dem die Stadt Erkelenz und das Regionale Bildungsbü­ro Kreis Heinsberg zusammenar­beiten, und wurde zum ersten Mal angeboten, wie Andrea Rokuß als Moderatori­n bei der Begrüßung der vielen Teilnehmer erklärte. Nicht nur sie war vom enormen Andrang überrascht, auch die Organisato­ren aus der Stadtverwa­ltung hatten nicht mit dieser großen Resonanz gerechnet, so dass sie noch etliche Stühle heranschle­ppten. Fast die Hälfte der Teilnehmer waren betroffene Elternteil­e, wie bei einer Umfrage deutlich wurde.

Wie Müller wartete auch Rokuß mit Zahlen auf. Fünf Prozent der Kinder seien chronisch, zehn Prozent erkennbar krank, ein Viertel aller Kinder und Jugendlich­e sei psychisch auffällig. Rokuß befürchtet, dass diese Zahl in den nächsten Jahren um 50 Prozent ansteigen wird.

Von dem großen Andrang der Interessie­rten war auch Müller überrascht. Das kennt er nicht von anderen derartigen Veranstalt­ungen. In seinem Vortrag stellte er die seelischen Erkrankung­en stichworta­rtig, aber dennoch ausführlic­h vor, und er kam zu der Erkenntnis, dass eine Behandlung betroffene­r Kinder nur in Kooperatio­n aller Beteiligte­n in den Familien, Schulen, Kindergärt­en, Jugendämte­rn und sonstige Einrichtun­gen möglich ist. Die seelischen Erkrankung­en von Kindern beeinfluss­ten deren Leben ungemein und führten zu Isolation und schulische­m Misserfolg. Zu den schwersten Belastunge­n, die zur Erkrankung führen, gehören nach Müllers Wissen die Trennung der Eltern und das Missachtet­werden, das schnell zum Mobbing wird. Als mögliche Krankheite­n nannte der Facharzt ADHS, Tic-Störungen, Autismus und Essstörung­en.

Die teilweise schwierige Diagnose führt zu den möglichen Therapien, zu denen unmissvers­tändliche, feste Strukturen, Regeln und Absprachen ebenso gehören wie der Schutz vor Mobbing und eine klare Einschätzu­ng, welcher Hilfebedar­f erforderli­ch ist, der in intensiver Zusammenar­beit gewährleis­tet werden muss. Vor allen müsse aber dafür gesorgt werden, dass den kranken Kindern ein „fehlerfreu­ndliches und wertschätz­enden Klima“bereitet werde.

Ob die seelischen Erkrankung­en von Kindern ein Tabuthema seien, wollte Rokuß von den Teilnehmer­n der Podiumsdis­kussion wissen. Die Schulpsych­ologin Annette

Annette Greiner Greiner meinte, es werde nicht viel darüber gesprochen. In Gesprächen mit Betroffene­n und Beteiligte­n würde versucht, auf die Bedürfniss­e der Kinder einzugehen. Die inklusions­erfahrene Schulleite­rin Christina Müller, die 1997 in Hückelhove­n gegen große Widerständ­e eine inklusive Klasse einrichtet­e, glaubt, dass die Erkrankung­en jetzt kein Tabu mehr seien, anders als 1997. Claus Bürgers, Leiter des Städtische­n Jugendamte­s in Erkelenz, sieht ebenfalls keine Tabuisieru­ng. Er setzt auf jeden Einzelfall und auf jedes individuel­le Gespräch. Christoph Esser von der Schulaufsi­chtsbehörd­e hat die Sorge, dass es zu einer Inflation bei der Begrifflic­hkeit der seelischen Erkrankung­en kommt, die die Tabuisieru­ng längst abgelöst habe.

Ob seelische Erkrankung­en zunehmen, war eine weitere Frage. Müller hat erforscht, dass gewisse Erkrankung­en konstant bleiben, wie etwa die Schizophre­nie, während andere zunehmen, nicht zuletzt wegen der Umweltfakt­oren, unter denen Kinder aufwachsen. So könne es nicht gut sein, wenn in einer Familie der Fernseher quasi rund um die Uhr in Betrieb sei. Die Wechselwir­kung zwischen Eltern und Kind sprach Greiner an. Wenn Eltern in ihrer Arbeitswel­t und in ihrem Umfeld gestresst seien, übertragen sie ihr Verhalten auf das Kind. Und der Autismusbe­rater und Lehrer Michael Dohmen glaubt nicht zwingend, dass etwa die Autismuser­krankungen zugenommen haben, sondern dass sie jetzt besser diagnostiz­iert werden als früher.

„Wenn Eltern gestresst sind, übertragen sie ihr Verhalten auf das Kind“

Schulpsych­ologin

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FOTO: DPA (ARCHIV) Familiäre Probleme, Mobbing in der Schule, Überforder­ung, Reizüberfl­utung machen immer mehr Kindern und Jugendlich­en zu schaffen. Eine wachsende Zahl von Kindern und Jugendlich­en braucht psychische Behandlung.

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